Erstellt am: 31. 3. 2009 - 16:25 Uhr
Büroflucht mal anders
2009 ist nicht nur das Jahr der Astronomie und der Naturfasern, sondern auch das Europäische Jahr der Innovation und Kreativität. Es gibt Tagungen, Wettbewerbe und eine Online-Plattform für Schüler und Lehrer. Im Wiener Radiokulturhaus beschäftigt sich das Symposium Creative Cities mit dem "Versprechen der kreativen Ökonomie". Das lautet nämlich: Als Teil der "Creative Industries" bist du frei und selbstständig, teilst dir den Tag ein, wie es dir passt und verdienst dein Geld (und davon gar nicht wenig) mit deinen Ideen (von denen du eh so viele hast).
Alle wichtigen Informationen zur Betriebsgründung gibt es bei der Wirtschaftskammer. Man kann es aber auch auf die harte Tour lernen.
Dass das dann doch nicht so einfach ist, merken die frischgebackenen Webdesigner oft erst, wenn es zu spät ist, sie die Raten für das MacBook Pro nicht mehr zahlen können oder die Steuer an die Tür klopft. Merke: Umsatz ist nicht gleich Gewinn.
Entsteht ein neues intellektuelles Proletariat, eine Art Tagelöhnertum im Zeitalter des Web 2.0? Das ist die zentrale Frage des Symposiums. Genau das Gegenteil ist der Fall, könnte man denken, wenn man in die Schraubenfabrik schaut. Hier haben die Kreativwirtschaftstreibenden einen gemeinsamen Platz zum Arbeiten.

schraubenfabrik.at
In der ehemaligen Fertigungshalle gehen die Büros der verschiedensten Firmen ineinander über: Der auf leere Bierkisten gestützte Schreibtisch der PR-Firma steht neben dem vom Topfpflanzendschungel umgebenen Arbeitsplatz des IT-Consulting-Unternehmens. Lauter kleine Firmen. Letzteres gehört zur Branche (wenn man die "Creative Industries" so nennen mag): Mehr als ein Drittel sind Ein-Personen-Unternehmen, nur etwa genauso viele haben mehr als 4 Mitarbeiter. Ersteres gehört zum Standort, denn das Arbeitszimmer in der eigenen Wohnung ist auf jeden Fall billiger. Doch hier, in der Schraubenfabrik, muss man sich weder um den Telefonanschluss kümmern noch staubsaugen. Und die Community kriegt man als Draufgabe.
Die Schraubenfabrik gibt es seit 2002, mittlerweile hat sie schon zwei Geschwister, die Hutfabrik im 6. und den Rochuspark im 3. Bezirk in Wien.
Einige wenige Plätze sind ab 250 Euro im Monat zu haben.
Und die ist auch die Hauptsache: Es ist purer Luxus, den Tag mit lauter Menschen verbringen zu dürfen, die eine ähnliche Einstellung zum Leben und Arbeiten haben, wie man selbst, mit ganz ähnlichen, aber doch anderen Dingen Geld verdienen. Es herrscht eine ideenbefruchtende Stimmung und berufliche Ergänzung. Der Modedesigner bucht die Fotografin vom Nebenschreibtisch, die wiederum den Webdesigner engagiert, den sie persönlich kennt. Eine Hand wäscht die andere. Ein Netzwerk, das sich zum Teil gegenseitig stützt und gemeinsam zu Mittag isst.
In Krisenzeiten sparen Unternehmen zuallererst dort, wo es ihnen zunächst nicht weh tut: Bei Werbung, Marketing, PR und all dem, das die "Creative Industries" sonst noch anbieten. Das merken auch die Mieterinnen der Schraubenfabrik, etwa die Journalistin Antje Mayer: "Die Budgets bleiben gleich, sie kommen aber zögerlicher, alle Kostenvoranschläge werden diskutiert und die Zahlungen kommen später - und mürrischer", lacht sie. PR-Beraterin Verena Brandtner spürt die Krise ebenfalls, ist aber genauso wenig beunruhigt: "Du hast immer wieder Phasen, wo es besser ist und Phasen, wo es nicht so gut läuft. Wenn du damit nicht klar kommst, bist du mit der Selbstständigkeit schlecht bedient."

Creative Cities
Creative Cities - Das Versprechen der kreativen Ökonomie
Heute, 31.03.2009 im Großen Sendesaal des Radiokulturhauses
Argentinierstr. 30a
1040 Wien
Eintritt frei
Ende ca. 20 Uhr
Genau da liegt die Kehrseite des Versprechens: Wenn du es erst geschafft hast, wenn du eine erfolgreiche CI-Firma mit einem festen Kundenstock aufgebaut und ein bisschen Geld auf die Seite gelegt hast, bist du nicht mehr Teil des Prekariats. Du tauchst unter der Krise durch. Dann bedeuten Flexibilität und Selbstbestimmung, dass du freiwillig am Sonntag arbeitest, damit du abends zu einem Konzert gehen und am Montag ausschlafen kannst. Jene Kreativlinge, die noch zu Hause arbeiten (ohne einen Extraraum als Büro von der Steuer abschreiben zu können) oder sich den Platz in der Bürogemeinschaft nicht mehr leisten können, haben aber (spätestens) jetzt ein Problem. Flexibilität bedeutet plötzlich, dass du am Sonntag arbeiten musst, weil du das Geld brauchst. Selbstbestimmung heißt, dass du auf das dringend benötigte Geld verzichtest, weil du nicht den neunten Tag in Folge arbeiten willst.
Irgendwann kommt der Erfolg oder aber die Erkenntnis, dass nicht jeder einen Bestseller schreiben kann und der Job bei der Versicherung für manch einen gar nicht so übel wäre. So oder so - was uns eint ist die Sehnsucht nach dem Großraumbüro.