Standort: fm4.ORF.at / Meldung: ""Unrast" von Olga Tokarczuk"

David Pfister

Rasierklingen, Schokolade, Zentralnervensystem, Ananas, Narzissmus und Ausgehen.

30. 3. 2009 - 14:46

"Unrast" von Olga Tokarczuk

Die Reise ist wohl die größtmögliche Annäherung an das, was unsere moderne Welt zu sein scheint: Bewegung und Instabilität.

Viele Menschen glauben, dass es im Koordinatensystem der Welt einen Punkt der Vollkommenheit gibt, wo Zeit und Ort im Einklang sind. Vielleicht ist das überhaupt nur der Grund, weshalb sie zur Reisen aufbrechen, sie meinen, so planlos sie auch herumreisen, es erhöhe dennoch die Wahrscheinlichkeit, auf diesen Punkt zu stoßen.

Olga Tokarczuk

Wydawnictwo Literackie

Der Roman "Unrast" von Olga Tokarczuk ist eine fiebrige, halsbrecherische Angelegenheit. Das klardefinierte Thema "die Reise, das Unterwegssein, die Unrast", manifestiert sich gleich mal in der Art und Weise des Buches. Verschiedene Handlungen, Geschichten und Protagonisten tauchen in Unrast auf. Treffen manchmal aufeinander, werden plötzlich von vermeintlich autobiografischen Tagebucheinträgen unterbrochen, um dann an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen und von einem mythologischen Ausflug torpediert zu werden.

Das Buch ist in seiner Art eben Reisenden ähnlich, die zufällig am Bahnhof oder im Bus aufeinandertreffen.

Da ist zum Beispiel die Mutter, die mit ihrem Sohn urplötzlich und auf mysteriöse Weise während eines Urlaubs verschwindet und einen suchenden Vater zurücklässt. Da ist diese orthodoxe Sekte, die durch ständige Bewegung dem Teufel entkommen will. Mitglieder dieser religiösen Vereinigung nutzen zum Beispiel U-Bahnen um zu schlafen. Da finden sie Ruhe, sind aber in Bewegung.

Bewegung und Instabilität

Nur ein Inder war da, der schon seit Jahren in diesem Werk arbeitete. Er arbeitete schweigend, geduldig, in gleichmäßigem Tempo. Nie kam er zu spät, nie fragte er um einen arbeitsfreien Tag. Ich überredete ein paar Leute, sich wenigstens seinetwillen gewerkschaflich zu organisieren - das waren die Zeiten der Solidarnosc-, aber er wollte nicht. Von meiner Anteilnahme gerührt, bewirtete er mich jeden Tag mit scharfem Curry, das er im Henkelmann von zu Hause mitbrachte. Heute kann ich mich nicht mal mehr an seinen Namen erinnern.

Olga Tokarczuks Protagonisten sind Rastlose, Getriebene und Flüchtende. Die Motive für ihre Rastlosigkeit so unterschiedlich wie die Menschen. Die Angst vor Verantwortung, vor Verwurzelung, die Lust am Unberechenbaren. Schiere Not und Verzweiflung oder unfreiwilliger Zwang.

Sie alle sind unterwegs und treffen sich eng verwoben in utopischen Zwischenräumen und Parallelwelten wie Zügen, Bahnhofshallen oder Flughafenrestaurants. Und hinter jedem Schicksal, hinter jeder Reise steht der Gedanke von Heimat. Wobei Heimat auch nur ein Geruch sein kann.

Jede Epoche sieht sich versucht, den Zustand des zeitgenössischen Menschen mit irgendeinem schlauen Wort zu beschreiben. Mir scheint, dass für unsere Zeit 'Unrast' ein solches Wort sein könnte.

"Unrast" von Olga Tokarczuk

Schöffling Verlag

"Unrast" von Olga Tokarczuk ist in der Übersetzung von Esther Kinsky im Schöffling & Co. Verlag erschienen

Olga Tokarczuk wurde 1962 in Warschau geboren und ist promovierte Psychologin. Tokarczuk gilt als eine der interessantesten polnischen Autorinnen. Für ihre Bücher wurde sie schon mehrmals international ausgezeichnet und ihre Erzählungen und Romane konnten Kritiker und Publikum gleichermaßen überzeugen.

Mit ihrem soeben auf Deutsch veröffentlichtem Buch Unrast ist Tokarczukein außergewöhnlicher Roman in einer auf den ersten Blick halsbrecherischen Art gelungen, der es dann aber - trotz des gewaltigen Tempos mit dem sich seine Gestalten oft bewegen - vermag zu verharren und manchmal sogar völlig stillzustehen.

"Unrast" ist mehr als nur eine Annäherung an das was unsere moderne Welt zu sein scheint. Tokarczuk gelingt es auf unkonventionelle, manchmal sogar recht aufgekratzte Art, aber eben trotzdem intelligent und sensibel unsere moderne Welt abzubilden. Fast meditativ treffen sich Tragik und Komödie in der Wartehalle.

Ein erstaunliches Buch.