Erstellt am: 28. 3. 2009 - 17:19 Uhr
Journal '09: 28.3.
Diese Ballade gibt es in echt: sie heißt The Angel.
Es war eine Szene wie aus einer Bruce Springsteen-Ballade: die Mainstream-Schönheit wirft ihre Haarpracht zurück und umgarnt mit zuckersüßer Stimme den Outcast, der sie seit Minuten gefangen nimmt.
Er, der wortgewandte Morrissey-Frisur-Träger, hat ihr gerade unter Aufbietung all seines Charmes erklärt, dass die Musik, die sie hört (und damit auch der Lifestyle, den sie lebt) sie immer nur an der Oberfläche des Lebens fasthalten und dass sie deshalb niemals wahre Intensität erfahren würde.
saw you in a mag
Der Mainstream-Beauty war Musik scheißegal, sie betrachtet sie nur als Bewegungs-Tool, aber mit seinen wohlgesetzten Anlockungen zum Sich-Einlassens auf das Gefährliche, das tief in jedem von uns lauern würde, hat der Outcast sie verführt.
Weil er sie spüren ließ, dass er das auch in ihr zu entdecken glaubt.
Das fasziniert und erotisiert sie, das lockt und reizt dann auch ihn, weil er weiß, dass er in diesem Tanz führt, und deswegen ziehen die beiden schon minutenlang einen Tease-Dialog durch, in einer Tischgesellschaft von acht oder zehn Leuten, die sich (entgegen ihrer Art) freiwillig aufs Zuhören zurückziehen.
Wire live: Comet
kissing a man
Was denn er, der Outcast, der Angel, als Musik bezeichnen würde, die ihn in Gefahr bringt, wanken und erzittern läßt, fragt sie, die Mainstream-Schönheit, Madison Avenue.
Ueia, sagt er.
Was? sagt sie.
U-EI-A, sagt er, Wire, wie der Draht auf Englisch.
Er hätte es sich leicht machen können.
Und wenn es ihm um die Beute gegangen wäre, um die Aussicht, die Haarpracht irgendwann auf seinem Kopfpolster zu sehen, dann hätte er es sich leicht gemacht. Er hätte "The Smiths" sagen können, die androgyne Karte ausspielen - immer ein gutes Lockmittel für den Klemmer-Mainstream.
saw you in a mag
Es hätten "Joy Division" sein können, mit dem Duft des traurigen Dichters, der gerettet werden will. Und retten wollen sie gerne, nicht nur die Mainstream-Frauen.
Es hätten "Echo & the Bunnymen" sein können, mit ihrer verlorenen drogenverhangenen Leichtigkeit, als ideale Anknüpfung ans Wiener Strizzitum oder "The Cure", die damals, zum Zeitpunkt dieser Begegnung vom Mainstream bereits ein ganz klein wenig wahrgenommen wurden.
Es hätte einiges mehr aus dem Postpunk-Bereich, der damals die Welt, die die abgewandte Seite des Mondes anbetete, regiert hat - und alles wäre leichter und besser zu vermitteln gewesen als "Wire".
Wire live: Lowdown
kissing a man
Von denen hatte die Haarezurückwerferin auch noch nie etwas gehört, und der Rebell, der sie damit zu beeindrucken wusste, begann eine kleine Hommage auf diesen seinen damals wichtigsten Lebensratgeber.
Dass sie nicht etwa deshalb so toll wären, weil sie musikalisch so weit vorne, formal so erneuernd oder textlich so gänzlich ungewöhnlich, sondern deshalb, weil sie diese eh schon radikale Unerbittlichkeit in jeder Lebenssituation ausspielten: keine Kompromisse mit der Industrie, keine Rücksicht aufs Publikum und auch keine Nachsicht gegen sich selber.
Wire gehen bis zum Äußersten und hören nicht einmal dann auf, wenn ihnen das Blut aus den Händen schießt.
saw you in a mag
Dann stellte er der Mainstream-Schönheit ein Mixtape in Aussicht, was sie mit einem Nicken quittierte - wiewohl sie sich innerlich bereits wieder verabschiedet hatte. Diese Aussichten waren zu unsexy: harte und riskante Rebellion, als Ausflug aus der Fadigkeit des Mittelmaßes, ja, gerne, immer wieder. Aber das, was der Outcast ihr da, zwischen den Zeilen und ganz offen, anbot, das bedeutete sich einem Lebensentwurf der Unbarmherzigkeit gegen die eigenen Schwächen zu unterwerfen - und das war nicht das ihre, so wie es nicht das der allermeisten ist.
Aus der Mainstream-Beauty und dem Outcast wurde nichts, wie letztlich auch aus Madison Avenue und dem Angel im Lied wohl nichts wurde.
Wire live: The Agfers of Kodack
kissing a man
Aus Wire wurde eine Band, die andere, wichtige Bands stark beeinflusste, eine Band in drei Phasen, der frühen, mit den drei Klassikern Pink Flag, Chairs Missing und 154, die zusammen die Bibel unseres outcasts bildeten, aus der mittleren von 86 bis 91, als sie Indie-Superstars bei Mute waren und den süßen Soundtrack zur Zeitenwende in Europa lieferten und dem Spätwerk, vor allem der Read & Burn-Trilogie.
Damit waren Wire 2002 auf Tour. Ich habe beim Stöbern einen Jahresrückblick mit einer emphatischen Beschreibung des Wien-Konzerts gefunden, über dessen Grundtonalität ich ein wenig erschrocken bin. Womöglich gilt das für damals gesagte aber immer noch, trotz verblichener 9-11-Nähe.
Saw you in a mag kissing a man: 12XU
12XU!
Sieben Jahre später ist der unbedingte Druck nicht mehr da. Gilbert fehlt, Newman hat zuviel Hall auf der Stimme, Lewis Zuschauer-Beschimpfungen sind zu freundlich, seine Fuck-Quote zu niedrig, nur Gotobed drängt nach jedem abgespielten Song auf schnellen Aufbruch zum nächsten.
Der Atem der Größe dieser Band ist aber deutlich zu riechen. Und er ist immer noch nicht süßlich oder minzig genug um die Mainstream-Schönheiten einzufangen.