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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

31. 3. 2009 - 16:48

Cidade de Deus

Die City of God ist eine Favela im Westen von Rio mit 38000 Bewohnerinnen. In den letzten Monaten war die Cidade de Deus Ziel eines Urbanisierungsprojekts der Stadtverwaltung.

2006 lebten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Die Städte der Zukunft sind aber keine strukturierten Lebensräume, sondern ein wild wucherndes Chaos, aus Müll gebaut. In cirka zehn Jahren wird es soweit sein, dass die Hälfte der Weltbevölkerung in Slums leben wird.

Es sind informelle Siedlungen, die nicht an die urbane Infrastruktur angeschlossen sind, keine oder nur eine unzureichende Kanalisation besitzen und oft von kriminellen Banden oder einer korrupten, kriminell agierenden Polizei terrorisiert werden.

Slums sind Siedlungen auf Arealen, die nicht als Lebensräume für Menschen geeignet sind, entlang von Autobahnen, auf Müllhalden, auf Hängen, rund um Industrieanlagen. Die Bewohnerinnen sind isoliert vom kulturellen und politischen Leben der Stadt und die dörflichen Strukturen, die den Menschen einen sozialen Halt geben, sind zerbrochen. Gratis ist das Leben in diesen Slums dennoch nicht. Schutzgebühren müssen an Slumlords, korrupte Polizei oder Milizen bezahlt werden. Diese triste Bild zeichnet der Stadtsoziologe Mike Davis in seinem 2006 erschienen Buch "Planet of Slums".

Vincent baut Häuser in der Favela, von den Mauern bis zur Kanalisation macht er alles im Alleingang. Er schleppt jeden einzelnen Ziegel. Aber es zahlt sich aus, meint er. Hier fühlt er sich sicher und geborgen."Wir sind eine große Familie, ein Nachbar kümmert sich um den anderen und so passiert nichts." Das, was mir Vincent über die Favela erzählt, ist so ziemlich genau das Gegenteil, was man in den Medien und von den Menschen, die nicht in der Favela leben, hört.

natalie brunner

Die aus Ziegeln irgendwie zusammengeschusterten Behausungen auf den Hügeln, teilweise bis zu vier Stockwerke hoch, prägen das Stadtbild von Rio. Es gibt hier über 750 Favelas.

natalie brunner

Da die Stadt so viele Hügel hat, befinden sich die ohne Genehmigung errichteten Favelas teilweise direkt im Zentrum oder in der Südzone, wenige Meter von den teuersten Wohngegenden Brasiliens entfernt .
Vincent meint, dass das große Problem der Häuser, die er baut, die Feuchtigkeit ist. Es gibt nur einen Meter Grund, dann beginnt der Müll.

Einige Favelas stehen auf einem Fundament aus Müll, das giftige Dämpfe entwickelt. Diese Dämpfe und das Wasser, das ebenfalls durch die Müllschicht fließt, machen die Leute krank. Über die Probleme mit den Ratten will er nicht sprechen, und schon gar nicht über die Traficantes, die Drogenhändler, die - in Syndikaten organisiert - die Favela beherrschen. Die Polizei betritt die Favela nicht. Es ist nicht ihr Herrschaftsgebiet. Ausnahmen sind die Spezialeinheiten, wie die BOPE, die mit der Waffe in Anschlag das Gebiet stürmen, wenn sie jemanden suchen und sich stundenlange Schießereien liefern.

"Es ist schon unglaublich", polarisiert einer meiner Freunde, "du wohnst in Botafogo, einen Stadtteil in der Südzone. Niemals würde die Polizei dir die Haustür eintreten, weil sie einen Drogendealer in der Nachbarschaft vermutet, bei uns in der Favela passiert das ständig."

Die Cidade de Deus ist eine flache Favela, sie ist nicht auf einem Hügel. Sie ist weit entfernt vom Stadtzentrum im Westen von Rio. Die Cidade de Deus hat als Wohnbauprojekt der Stadt begonnen, ist aber nach kurzer Zeit aus den Fugen geraten. Die Zuwanderung aus dem Nordosten Brasiliens war zu groß. In der Siedlung hat sich die Armut konzentriert und die Bewohnerinnen haben kaum Chancen, der geographischen und sozialen Isolation zu entkommen und am regulären Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Paulo Lins kennt die Cidade de Deus gut. Er hat ein Buch über ihre Geschichte geschrieben das, auch die Vorlage des Films "City of God" ist.

"Heute kontrollieren die kriminellen Organisationen die Favelas", meint der Schriftsteller Paulo Lins, "und das ist nur möglich aufgrund von Korruption. Das einzige, das der Staat in die Favela entsendet, ist die Polizei. Es gibt keine guten Schulen, keine ausreichende Gesundheitsversorgung, keine Sozialleistungen. Das macht die Herrschaft der kriminellen Organisationen absolut. Die Bevölkerung, die zur überwiegenden Mehrheit Arbeiter sind, ordnen sich ihrer Gewalt unter. Aber das Problem reicht weiter: Wenn du Arbeiter in Brasilien bist, bist du gezwungen aufgrund des niedrigen Mindestlohn in der Peripherie oder in der Favela zu leben, du hast gelernt mit der Gewalt zu leben und zu überleben. Das Problem ist, dass die Gewalt als etwas alltägliche akzeptiert wird."

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Deize Tigrona ist eine berühmte Bewohnerin der Cidade de Deus. Sie ist Baile Funk MC. Baile Funk ist eine in den Favelas von Rio geborene Musik, die die sozialen, politischen, kulturellen und urbanen Besonderheiten von Rio de Janeiro reflektiert. Deize Tigrona ist eine der Größten des Genres. Einer ihrer Songs war Grundgerüst zu MIAs weltweitem Hit "Bucky Done Gone". Deize ist gut im Geschäft. Sie tourt in Brasilien und mindestens einmal im Jahr in Europa. Obwohl sie es sich leisten könnte, möchte sie die Cidade de Deus um nichts in der Welt verlassen. Ihre Familie lebt hier, sie hat ihr gesamtes soziales Netzwerk hier. In dem Teil, in dem sie lebt stehen kleine Reihenhäuser und alle drei Straßen gibt es einen Basektballplatz und einen Spielplatz. An dem Häusern sind Stromzähler - ein ungewohntes Bild.

natalie brunner

Die angezapften Strommasten mit den vielen wegführenden Kabeln sind ein klassisches Favelabild.

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"Nein hier ist alles ofiziell, alles organisiert", meint sie. "Wir zahlen Strom- und Wasserrechnungen und die Gemeinde setzt sogar die Grundsteuer immer weiter hinauf."

Diese ständig steigenden Kosten sind ein großes Problem für die Bewohner. Vor sechs Monaten gab es einen so genannten Choque de Ordem, einen Ordnungsschock. Die Polizei hat die Favela besetzt, die Banditen, die die Cidade de Deus kontrollierten, vertrieben und die rechtstaatliche Ordnung wiederhergesellt. Es gibt keinen Drogenhandel mehr, keine Schießereien. Das sei vor allem für die Kinder gut, meint Deize.

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Der Choque de Ordem, die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit hatte aber auch negative Konsequenzen für die Bewohner. Die Polizei hat die illegalen Stromleitungen gekappt, genauso wie die Internet- und Kabel-TV-Leitungen. Baile Funk gibt es am Wochenende auch keinen mehr. Die Bewohner sollen für Wasser und Müllabfuhr zahlen. Dass sie das mit ihrem Einkommen nicht können, ist aber wiederum der Grund warum sie überhaupt gezwungen sind, in einer Favela wohnen.

Deize erzählt: "Es gibt noch eine andere Seite der Cidade de Deus, dort haben sie viele Baracken einfach platt gewalzt und die BOPE ist noch immer dort stationiert. Es herrschen ziemlich traurige Zustände."

Die Stadt Rio versucht seit Mitte der 80er Jahre in den wachsenden Favelas die Lebensumstände zu verbessern. Das ist nicht nur ein soziales Unterfangen sonder überlebenswichtig für die gesamte Stadt. Unter Miteinbeziehung der Bewohner sollen die Favelas zu normalen Wohnbezirken mit geklärten Eigentumsverhältnissen aufgewertet werden.

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