Erstellt am: 26. 3. 2009 - 17:05 Uhr
Zwischen Traum und Extase
Trance und Traum
Ein Studio in Montréal. Die MusikerInnen von The Arcade Fire stehen mit geschlossenen Augen zwischen allerhand Instrumentarium, zwischen Schlagzeug, Gitarren oder Glockenspiel. Ein Hypnotiseur legt den Musikern der Reihe nach seine Hände auf die Stirn, flüstert ihnen etwas zu und schon befinden sich alle in einer Art Trancezustand am Boden liegend.
miroir noir/ vincent morisett
Aus dem Off taucht der Song 'Wake Up' von ihrem Debüt 'Funeral' langsam auf, die Kamera führt uns auf eine Bühne wo die Musiker inmitten von hunderten Fans diesen Song gerade spielen und sofort geht die Reise weiter zu einer eingewobenen Bühnenperformance von 'Black Mirror'. Mit diesen Bildern beginnt 'Miroir Noir, mit einem Zeitsprung zwischen zwei Alben und zwei Jahren innerhalb von nur einer Minute.
Und was gleich folgt sind 76 Minuten, die die Zeit dazwischen porträtieren werden. 76 Minuten, die mit gewohnten Sehgewohnheiten brechen. 76 Minuten, in denen genau zwei Songs zur Gänze ausgespielt werden und insgesamt vielleicht 10 gesprochene Sätze fallen. Wie bitte? Worum geht es hier?
Genau das fragt auch eine ratlose Anruferstimme vom 1-866-NEON BIBLE-Tonband, der berühmt-berüchtigten Marketingmasche zu Neon Bible, die nach den ersten gesehenen Bildern zu hören ist. Hier sind sie also gelandet, all die Anrufer, die damals mehr über die obskure Bibel erfahren wollten.
Miroir - Vincent Morisette
Eine Dokumentation über eine Band, die ohne ausgespielte Musikstücke oder ausführliche Interviews auskommt? Das erinnert an experimentelle Zugangsweisen, etwa von William E. Jones und seinem Film 'Is It really So Strange' rund um den Kult um The Smiths und Morrisey. Der Film kommt nämlich gänzlich ohne Musik aus. Oder 'A Skin, A Night' von Vincent Moon. Eigentlich weniger eine Dokumentation als eher ein intimer Einblick in den Kreativprozess einer Band.
Und wenn Vincent Moon nicht gerade an seiner "Blogotheque" und den Take-Away Shows arbeitet, hat er die Finger am Record-Knopf, um weitere Ausnahme-Dokumentationen zu drehen. Gemeinsam mit dem Regiesseur Vincent Morisett, der bereits für das "Neon Bible"-Video verantwortlich war, hat er dafür The Arcade Fire mit nur zwei Handkameras zwei Jahre lang im Studio, auf- und hinter der Bühne begleitet.
miroir noir/ vincent morisett
Wie sich das bildnerisch gestaltet, kann man anhand des generellen Arbeitsmottos erahnen, dass sich auf Moons Blogotheque-Seite findet:
"We keep the raw sound of the surroundings. Our goal is to try and capture instants, film the music just like it happens, without preparation, without tricks. Spontaneity is the keyword"
Kontrollverlust
Die Ohnmachtssequenz am Anfang kann als Metapher gelesen werden: Über den Kontrollverlust etwa, den der Hype rund um die Band bei den Musikern ausgelöst hat. Über das traumartige Gefühl, innerhalb kurzer Zeit vom Geheimtipp zu einer der bekanntesten kanadischen Bands avanciert zu sein. Und wie Traumfetzen wirken auch die Bilder im Film:
Blitzartige Ausschnitte von exzessiven, energiegeladenen Shows wechseln nahtlos mit spontanen, stillen Einlagen in fahrenden, gläsernen Hotelliften. Ein Bild, dem man in 'Miroir Noir' öfters begegnet: Die Band in allen erdenklichen Off-Stage Situationen, ungeschnitten und im Original-Kameraton singend und musizierend. Backstage vor dem Konzert. Am Balkon des Studios in Montréal, in tiefdunkler Nacht.
Weitaus stärkere Momente sind es aber, wenn Moon und Morisett neben den Musikern auf der Bühne stehen, um sie aus allernächster Nähe zu filmen. Gleich neben dem Schlagzeug, neben der Hurdi Gurdi, neben dem lautstarken Gebrüll der einzelnen Puzzleteile des Kollektives. Schweißperlen so nah, man könnte sie vom Bildschirm lecken. Und dann wagen sie etwas, bei dem es jedem Tonmeister den Mageninhalt umdrehen würde:
Fein abgemischter, unter das Bild arrangierter Konzertton AUS. Originaler, trashiger Kameraton EIN. Rauschen, Rumpeln, Streicherwahnsinn frontal. Genau am Höhepunkt von "Haiti".
Miroir Noir - Vincent Morisett
Weniger ist mehr
Der Kameraton als Störelement oder Bilder, die eigentlich gar nicht zur Musik passen. Oder Bilder aneinander geschnitten, die überhaupt nicht aufeinander passen. Zusammengehalten durch das regelmäßige, verstörende Auftauchen der Neon-Bible-Promo-Tonband-Stimmen, die sich Geschichten, Fragen und Frust von der Seele reden.
Der Verlockung, sich diesem Film in gewohnten Sehmustern wahrzunehmen, kann man sich nicht hingeben. Und wahrscheinlich schaffen die Filmemacher genau deswegen das, wofür sich konventionelle Fimemacher oft mit großer Technik und viel Tam Tam abmühen, um dann doch oft kläglich zu scheitern: Großartige, poetische Bilder und eine authentische Atmosphäre einzufangen, wie sie sich in zwei Jahren vor und hinter der Bühne wohl aus Sicht der Band auch wirklich, zumindest zu einem Stück, zugetragen hat.
Dass der rohe, experimentelle Lo-Fi-Zugang und die Umsetzung vielleicht für manche Fans, die sich passend zur monströsen Neon Bible-Megatechnik-Tour ein passendes, glitzerndes Video erwartet haben, enttäuschend oder frustierend wirken kann, nehmen The Arcade Fire, wie Win Butler schon in einem anderen Interview erzählt hat, mit einem Schulterzucken hin: "It's better to be a little frustated than to be bored".
'Miroir Noir' ist alles andere als langweilig. Wer sich davon überzeugen möchte:
radio FM4
'Miroir Noir' gibt es seit kurzem als Download und DVD. Die DVD ist ausserdem bestückt mit allerhand Extras wie Material der Auftritte bei der BBC und Saturday Night Live, sowie Extra-Artwork. Erhältlich über City Slang.
www.cityslang.com
www.miroir-noir.com
Radiotipp:
Mehr über 'Miroir Noir - Neon Bible Archives' gibt es heute auch in der Hombase zwischen 19-22 Uhr zu hören!