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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

25. 3. 2009 - 00:37

Mama, die Engel und der Satan

Was die Fälle Josef F. und Jade G. über den Zustand der moribunden britischen Presse sagen.

An sich bin ich ja pathologisch Nachrichten-obsessiv.
Nur letzte Woche hab ich - aus Rücksicht auf meine seelische Substanz - abgedreht. Und zwar selektiv, wann immer die Sprache auf eine jener zwei Geschichten kam, die sich wie Schimmelpilz durch die britischen Medien fraßen: Einerseits die Josef F.-Geschichte mit dem üblichen Ösi-Bashing dazu. Und andererseits die Sache mit Jade Goody, einer 27-jährigen ehemaligen Big Brother-Kandidatin, deren tödlicher Gebärmutterkrebs in aller Öffentlichkeit ausgeschlachtet wurde.

Man sollte meinen, jene beiden Vorwände zum Druckerschwärzeverschleiß, die jeweils mit einem Schuldspruch und einem Todesfall endeten, hätten nichts miteinander gemein. Aber das Meinen ist ja selten was, das sich nach dem Sollen richtet. Lasst mich ausholen.

Guardian-Artikel über Jade Goody

Robert Rotifer

Goody im Guardian

Früher, als ich in Österreich gewohnt hab', war ich ja selbst immer vorn mit dabei, wenn's um das Beklagen der ewigen Verdrängerei, verborgene Grausamkeiten, repressive Familienstrukturen und den gesellschaftlichen Nachlass der NS-Zeit ging. Nestbeschmutzer used to be my middle name. Aus britischer Perspektive hat man dann allerdings auch wieder bald genug davon.

Nicht bloß wegen der obszönen Art, mit der die Opfer der Nazi-Vernichtungsmaschinerie posthum als Zeugen jeder billigen Kommentatoren-These missbraucht werden (nein, Tony Paterson vom Independent, F.s Prozess erinnert ganz sicher nicht zwingend an die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg).
Sondern auch, weil das hohe Ross, von dem aus all die selbstgerechten Thesen über austrospezifische patriarchalische Gewalt und Selbstbetrug gestreut wurden, auf gar so wackeligen Beinen steht.

Broken Britain vs. Ugly Austrian

Wer perverse Lust auf einen Wettstreit der Monströsitäten verspürt, könnte etwa den letzten November vor Gericht gekommenen Inzestfall jenes Geschäftsmannes aus Sheffield erwähnen, der mit seinen zwei Töchtern über 25 Jahre neun Kinder gezeugt hatte. Oder die sich häufenden Fälle kleiner Kinder, die in England unter der Aufsicht überforderter SozialarbeiterInnen von ihren Eltern zu Tode gefoltert werden. Oder den erst unlängst hunderter Vergewaltigungen überführten Taxifahrer aus Croydon. Wie sich herausstellte, waren die Anschuldigungen einer großen Zahl seiner Opfer von der Polizei als Bagatellen verworfen worden. Ein formaler Verwaltungsfehler natürlich. Oder doch auch das Wegschauen der Gesellschaft so wie bei den perversen Ösis?

Nicht, dass es zu diesen Fällen in den britischen Medien nicht mindestens genauso viele Kommentare gebe, die die Verdorbenheit der eigenen Gesellschaft anklagen.
Sowohl beim "Broken Britain" als auch beim "Ugly Austrian" geht es im Endeffekt aber um jene Selbstbestätigung durch die Verdammung anderer, die Joyce McMillan im Scotsman (Danke, John Clifford, für den Link) so treffend "Othering" nennt, seien die "others" nun die komischen Älpler oder die bedrohlichen Dämonen im eigenen Land, vorzugsweise Einwanderer, Jugendliche oder die verwilderte Underclass.

Der dabei erreichte Grad der hysterischen Überhöhung hat seine Ursachen jedoch nicht in den diffusen Launen der von den britischen Medien so gern zitierten "Public", sondern in den strukturellen Veränderungen innerhalb der Medien selbst.

"Vorzugsweise Auspeitschen"

Noch vor zehn, fünfzehn Jahren waren britische Qualitätszeitungen wie der Guardian, der Telegraph, die Times oder der Observer dicht mit News befüllt, und dazu gerade einmal eine Doppelseite Leitartikel, Kommentar und Leserbriefe. Ausgerechnet jetzt, wo tausende Blogs die Aufgabe des Kommentierens ohnehin selbsttätig wahrnehmen, drohen im ehemals seriösen Segment der Tagespresse hypertrophe Kommentarspalten die dringend gebrauchten Reportagen zu verdrängen.

Das ist vor allem eine Preis- und Ressourcenfrage, schließlich hat seit der Übernahme der britischen Zeitungsverlage durch eine rein gewinnorientierte Generation von Eigentümern der Rotstift eine Spur der Verwüstung durch die Redaktionen der Insel gezogen.

Meinungen sind ein schneller, billiger Weg, Seiten zu füllen. Und wenn es immer mehr Standpunkte zu immer weniger Stories braucht, müssen zur Gewährleistung der Vielfalt eben immer wildere Thesen aus den Fingern gesogen werden.

Dann schreibt etwa Libby Purves, semi-prominent als Romanautorin und Moderatorin einer Radio-Talk-Show und Trägerin des Order of the British Empire-Ordens für Verdienste um den Journalismus, in ihrer Times-Kolumne, sie wünsche sich, dass F. "nicht in einer gemütlichen Nervenheilanstalt", sondern im Gefängnis "eingesperrt, erniedrigt und vorzugsweise ausgepeitscht" würde. Wenn die Welt dieses "secret Satan" nun in sich zusammengefallen sei, dann hoffe sie, dass er "langsam am Geröll erstickt". Wie gesagt, solcherart "Journalismus" erscheint heutzutage in der Times(!).

Aber es wäre zu kurz gegriffen, deshalb den Sieg des Boulevards auszurufen. Der steckt nämlich in einer mindestens ebenso schweren Krise - siehe erwähnte Jade Goody-Story. Als der Reality-TV Star am Sonntag starb, füllte Rupert Murdochs Massenblatt The Sun nicht nur neun Seiten, sondern auch noch eine fette Beilage. Die Konkurrenz stand dem um wenig nach. Sowas hatte es seit Diana nicht mehr gegeben.

Die Junkies hängen an Max Cliffords Outbox

Goody war bei Big Brother vor allem dadurch berühmt geworden, dass sie glaubte, East Anglia sei in Afrika (sie selbst kam aus dem nördlich an East Anglia grenzenden Essex) und eine indische Ko-Kandidatin bei Big Brother auf dümmlich rassistische Weise veräppelte. Gerade das machte sie zur Identifikationsfigur der "einfachen Leute".

Zumindest wurde die Geschichte von ihrem PR-Agenten Max Clifford und dessen Erfüllungsgehilfen in der Presse so gespielt.
Clifford, ein zynischer Spezialist für Skandal- und Mitgefühlsgeschichten jeder Art, zog auch die Vermarktung von Goodys Krebserkrankung auf.

Täglich versorgte er den Boulevard mit morbiden neuen Geschichten: Ihre Heirat kurz vor dem Tod, ihr Abschied von den Kindern, "Mami geht zu den Engeln".
Die penetrante Berichterstattung verfehlte nicht ihre Wirkung. Vor dem Haus der Verstorbenen türmen sich die Blumenkränze.

Wie erst gestern im Radio eine Kommentatorin analysierte, habe Goody sich in ihren letzten Wochen den Respekt der "Public" dadurch erworben, dass sie mit dem lukrativen Verkauf ihrer Krankheit an die Presse die Existenz ihrer beiden Söhne abgesichert hat. "Sie war eine mutige Frau, sowohl im Leben als auch im Tod", sagte Gordon Brown am Sonntag, "Das ganze Land hat sie bewundert für ihre Entschlossenheit, ihren Kindern eine leuchtende Zukunft zu bieten." Nichts verlangt in Großbritannien so viel Respekt wie Geldmachen.

In Wahrheit ist jenes Geld, das die versammelte Schundpresse Jade Goody und ihrem PR-Apparat in den Rachen warf, aber nicht viel mehr als ein Zeugnis der journalistischen Pleite eines Boulevards, der mangels eigener Stories wie ein Junkie an Max Cliffords Outbox hängt. Über Wochen hinweg mutierten die Titelblätter der auflagenstärksten Zeitungen Großbritanniens zu Verlautbarungsorganen eines mächtigen PR-Agenten.

Und das ist die wahre Trauer an den aktuellen Prophezeiungen eines durch die Rezession beschleunigten, bevorstehenden Zusammenbruchs der Print-Medienlandschaft: Dass es da leider immer weniger zu betrauern gibt. In ihrer zunehmenden Verbloggung und Verblödung sägt die britische Presse an den letzten Pfeilern ihrer eigenen Existenzberechtigung.