Erstellt am: 24. 3. 2009 - 16:04 Uhr
Essays aus der Zukunft
Als ich im Vorjahr eine Buchpräsentation des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC besuchte, war ich einigermaßen überrascht. Der große Saal der Wiener Stadtbibliothek war so gut gefüllt, dass an einen Sitzplatz nicht zu denken war. ATTAC hat sich 1998 anlässlich der Finanzkrise in Südostasien mit dem Ziel der Regulierung der Finanzmärkte gegründet und seither weltweit ausgebreitet. Anlässlich der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, vor der ATTAC viele Jahre gewarnt hat, dürfte der Zulauf zu der Organisation auch weiterhin steigen. Und inmitten der gloabalen Krise steckt auch der Global Player EU nicht zufällig in einer demokratischen Legitimationskrise. Das Vertrauen in die europäischen Institutionen ist gering, der "Verfassungsvertrag" wurde bei Volksabstimmungen in Frankreich, Holland und Irland zurrückgewiesen.
ATTAC
"Das schwache Vertrauen der Bevölkerung ist verständlich", schreibt das Herausgeberteam des neuen ATTAC-Buches "Wir bauen Europa neu". "Die EU hat uns nicht vor der Globalisierung geschützt. Durch die Deregulierung der Finanzmärkte und die blinde Liberalisierung des Kapitalverkehrs verschuldete sie sehenden Auges die Ansteckung mit der Finanzkrise. Zur Klima- und Energiekrise leistet die EU aufgrund ihres übermäßigen Ressourcenverbrauchs einen wesentlich größeren Beitrag als die meisten anderen Wirtschaftsräume. Die Agrar- und Handelspolitik der EU hat zur Verschärfung des Welthungerproblems beigetragen."
Die Kritik im Vorwort ist Auftakt zu einer Sammlung von Essays, in denen Alternativen beschrieben werden: Artikel, in denen 23 AutorInnen, darunter Christian Felber, Sepp Wall-Strasser oder Elisabeth Klatzer, einen interessanten Kunstkniff anwenden: Sie gehen mit dem Leser einige Jahre oder Jahrzehnte in die Zukunft und erzählen aus dieser Sichtweise, wie sich das Europa der Gegenwart in eine sozial gerechte, demokratische, ökologisches und friedliche EU gewandelt hat.
Mehr Demokratie
"Als der Europasender "Europolis" die Wahlbeteiligung verkündete, stockte ganz Europa der Atem: 98,3 Prozent der Menschen waren zu den Wahlurnen gegangen. Das hatte es in der Geschichte der Europäischen Union noch nicht gegeben: Am Abend des 12. Juni 2012 hatte die EU ihre erste Verfassung. Was war passiert?" Christian Felber beschreibt, wie die nationalen Regierungen nach dem Scheitern eines zweiten Referendums in Irland das Volk ans Ruder lassen: 450 Millionen Menschen wählen zunächst jene VertreterInnen, denen sie am ehesten zutrauen, eine neue Verfassungsgrundlage für die EU zu erstellen. Der Konvent tagt in regelmäßigen Abständen 18 Monate lang, lädt auch weitere "BotschafterInnen" der Zivilgesellschaft zu formalen Anhörungen ein und wird durch den Fernsehsender "Europolis" ständig begleitet. Am Ende des öffentlichen Prozesses steht eine 70-seitige Verfassung, die das Zusammenspiel der Institutionen, die Grundrechte, Werte und Ziele der Union festhält. Das EU-Parlament enthält das Initiativrecht für Gesetze und das Recht, EU-Gesetze auch ohne Zustimmung der EU-Regierung zu verabschieden. Die Mitglieder der EU-Regierung, die aus der Kommission hervorgeht, werden vom Parlament einzeln gewählt und können auch mit einfacher Mehrheit wieder abgewählt werden. Auch die Bevölkerung erhält diese Möglichkeit per Bürgerinitiative.
Christian Felber erzählt, wie sich am Tag der europaweiten Abstimmung über diese Verfassung lange Schlangen vor den Wahllokalen bilden, und wie 60 Prozent der Bevölkerung für den Vertrag stimmen. Die EU-BürgerInnen des Jahres 2012, malt sich Felber aus, schätzen an "ihrem" Europa nicht die größte globale Wettbewerbsfähigkeit, sondern ihre gelebte Demokratie.
Soziale Sicherheit
Noch weiter in die Zukunft reist Sepp Wall-Strasser. Aus Sicht des Jahres 2030 erzählt der Philosoph und Theologe, wie die Europäische Union vom Staatenbund in einen Staat verwandelt wird: "Europapolitik ist Innenpolitik – Sozialipolitik ihr Motor" heißt es in einer Zwischenüberschrift. "Hätte man die Konstruktion der EU laut der Einheitlichen Europäischen Akte der 80er- und 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts auf die Nationalstaaten umgelegt, hätte das bedeutet, dass etwa Deutschland oder Österreich duldeten, dass in einem Bundesland die 45-Stunden-Woche, in einem anderen die 38-Stunden-Woche gegolten hätte, dass man in einem drei, in dem anderen sechs Wochen Urlaub gehabt hätte und so fort. Oder: es hätte bedeutet, dass in einem Département in Frankreich Unternehmen nur 7 Prozent, in einem anderen 18 Prozent Sozialversicherungsabgaben zu zahlen hätten."
Wall-Strasser beschreibt, wie sich die Menschen Europas der Absurdität dieser Ungleichheiten bewusst werden und eine europäische BürgerInneninitiative starten. Schließlich weichen die sozialen und wirtschaftlichen Spannungen zwischen den Nationalstaaten einer echten europäischen Sozial- und Innenpolitik.
Geschlechtergerechtigkeit
"Unser emanzipatorisches Europa" beschreibt die Sozialwissenschafterin und Harvard-Absolventin Elisabeth Klatzer, ebenfalls in einem "historischen" Essay aus der Sicht einer Europäerin der Zukunft: Im Konvent zur Erstellung einer EU-Verfassung waren Frauen und Männer gleichermaßen vertreten. VertreterInnen der europäischen Institutionen, der Parlamente der Mitgliedsstaaten sowie der Ziviligesellschaft aus allen Teilen Europas arbeiteten gleichberechtigt zusammen. In der EU der Zukunft gibt es Geschlechtergerechtigkeit im Parlament und allen übrigen EU-Institutionen, aber auch in allen an den Börsen notierten Unternehmen. Frauenrechte sind nicht nur bei den europäischen, sondern auch bei den Gerichten im eigenen Land einklagbar. Europa hat mit der Erweiterung der Grundrechts-Charta um einen umfassenden Katalog der Frauenrechte international neue Standards gesetzt.
Weitere Themen, die das neue ATTAC-Buch behandelt, sind: Gesundheitsversorgung, Atomkraft, Gentechnik oder Verteidigungsspolitik. Überschneidungen und Widersprüche sind in einem Sammelband, an dem 23 Autoren beteiligt sind, nicht zu vermeiden.
"Wir bauen Europa neu" ist kein Positionspapier von ATTAC, sondern enthält vor allem persönliche Utopien zu einem hochkomplexen Themenfeld. Die unmittelbare Durchsetzbarkeit dieser Visionen mag nicht unbedingt gegeben sein, der Vorwurf der "Träumereien" seitens der Befürworter eines neoliberalen Europakurses ist wohl unvermeidbar. Das Buch aber ermöglicht es dank der Reisen in die Zukunft, der Materie vergnügt zu folgen. Es ist nicht nur unterhaltsam, sondern hinterlässt bei aller Kritik an der EU auch ein positives Gefühl – eine Grundstimmung, aus der sich tatsächliche Veränderungen ergeben können.
Buchpräsentation
"Wir bauen Europa neu": 24. März (heute), 20 Uhr
Albert-Schweizer-Haus, Schwarzspanierstraße 13, 1090 Wien.
Mit Christian Felber, Ulrike Lunacek u.a.
Moderation: Margaretha Kopeinig (Kurier)