Erstellt am: 24. 3. 2009 - 05:26 Uhr
Abseits des Pfades
Die unverhofften Dinge machen das Leben aufregend. Stets vernünftig und geradlinig ein Ziel nach dem anderen zu verfolgen, stellt bloß das sichere Grundgerüst. Jenes Fundament, von dem aus möglichst viele unvorhersehbare Begegnungen, Ereignisse, Erlebnisse das Leben wirr und spannend machen sollen.
Zuerst bleibt man natürlich trotzdem am Weg, so wie es uns die Eltern immer ans Herz gelegt haben. Da kann nichts passieren, da bist du sicher. Und es stimmt: Nichts passiert. Selbst Großmutter liegt regungslos im Bett und starrt an die Decke anstatt uns zu begrüßen. "Fail" sagt die Schlusswertung.
Tale of Tales / Robert Glashüttner
Der Weg, "The Path", ist das Begleiten von sechs Mädchen, allesamt Geschwister, auf ihrem jeweils unterschiedlich langen Weg zum Erwachsenwerden. Das Draufgreifen auf die heiße Herdplatte ist der Wald ringsum. Ein paar Schritte nur, noch sieht man den Pfad. Doch schnell gibt es keine Orientierung mehr, die Sonnenstrahlen und die Wiese weichen dem grauen Schleiernebel im Unterholz. Die Mädchen sind entdeckungsfreudig, es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Der Wald ist ein Labyrinth, aus dem sie eigenständig nicht mehr entkommen werden.
Dort drüben, ein Autowrack. Und da hinten schimmert eine helle Lichtung aus dem monochromen Einerlei hervor. Doch auch wenn die Rotkäppchen durch kindliche Unschuld (Robin, 9 Jahre), morbide Weltverachtung (Ruby, 15 Jahre) oder frisch entdeckte sexuelle Stärke (Carmen, 17 Jahre) die Angst durch Neugier, Mut und Aufmüpfigkeit vertreiben - den bösen Wolf gibt es trotzdem.
Tale of Tales / Robert Glashütter
Es war für viele ein Warten wie auf das neue "Sims" oder "Halo": Am 18. März um 21 Uhr wurde von San Francisco aus - in Europa mitten in der Nacht des Folgetages - "The Path" online veröffentlicht.
Auriea Harvey und Michaël Samyn von Tale of Tales aus Belgien hatten bereits Wochen und Monate davor mit ihrer außergewöhnlichen, interaktiven Neuinterpretation von Rotkäppchen Aufmerksamkeit erregt. In erster Linie war es die grafische Gestaltung, die begeistert hat: Zwischen malerischen Landschaftsdarstellungen, verspielten Buntstift-Zeichnungen und den hübschen, in rot und schwarz gekleideten, nie greifbaren und mysteriösen Mädchen ist "The Path" schnell zu einem Darling der Computerspiele-Presse geworden, noch bevor sie und wir uns im Wald verlieren konnten.
Tale of Tales / Robert Glashüttner
Parabeln statt Sprachausgabe
Der Enthusiasmus entspringt aber auch der Sehnsucht nach Computerspielen, die mehr können als bloß spielerische Tiefe zu bieten. "The Path" opfert sogar gängige Gameplay-Elemente um eine offene, mit Bedeutung aufgeladene, aber niemals schlüssige Welt zu zaubern, aus der sich jeder seinen eigenen Reim machen kann. Da ist es nur passend, dass das Spiel stark surrealen Charakter hat und oft an eine weitere düster-verwunschene Märchen-Umsetzung erinnert: American McGee's Alice (2000).
Das Fehlen jeglicher gesprochenen Sprache, das immer leicht körnige Bild, die schauderhaft-schöne Geräuschkulisse und der nahtlos gewebte Soundtrack mit verstimmten Kindermelodien, verlorenen Streichern und gemahnenden Flöten sorgt für dichte, emotional reichhaltige Atmosphäre.
Tale of Tales / Robert Glashüttner
Tale of Tales / Robert Glashüttner
The Path ist für Windows PCs erschienen und für knapp 10 US-Dollar online zu beziehen. Eine Mac-Version ist in Arbeit.
Gewinnen oder Scheitern gibt es bei "The Path" im klassischen Sinn nicht - wiewohl man es durchspielen und sogar dem Videospiel-typischen Sammeltrieb frönen kann.
Doch es gibt weitaus Aufregenderes zu tun als alle vierblättrigen Kleeblätter zu sammeln und den Korb für Großmutter mit allerlei Seltsamkeiten zu füllen, die im Wald herumliegen. Wir wollen uns einfach nur verlieren damit wir zu uns selbst finden. Wir wollen vom Wolf gefressen werden.