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Pia Reiser

Filmflimmern

23. 3. 2009 - 16:02

Let's Oliver Twist again

Danny Boyles Märchen "Slumdog Millionaire" ist Eskapismus-Balsam für krisengebeutelte Seelen und sorgt für Aufregung im Kritikerwald.

Man bräuchte einen Hochdruckreiniger um "Slumdog Millionaire" von all den Pressewucherungen, Erwartungshaltungen und Protesten zu befreien, die den Film inzwischen in Dornröschenschloss-Ausmaßen verhüllen. Verdorrt sind inzwischen die Vorschußlorbeeren, die nach einigen Festivals zu ranken begannen, es folgte der obligatorische Backlash, eine Schmutzkübelkampagne um die Oscar-Chancen zu schwächen, der Triumph bei den Academy Awards, Proteste in Indien von Bewohnern der Slums, Proteste des wohlhabenden Indiens, das sich von der Indien=Armut-Gleichung emanzipieren will. Es ist nicht mehr möglich, den Film befreit von den Lobhudeleien und Buhrufen zu sehen, geschweige denn zu rezensieren.

Bitte halten sie durch

Und wär das noch nicht genug, tragen auch noch Parallelen von Filminhalt und Entstehungsgeschichte einiges zur inzwischen larger than life-Erfolgegeschichte und Legendenbildung des Films bei. Ein Film, den zunächst niemand realisieren wollte, dessen Verleih - "Warner Independent" - schließlich vor dem Aus stand und für "Slumdog Millionaire" schon eine Direct-to-DVD-Veröffentlichung geplant war, entwickelt sich zum Preisabräumer und Liebling des Publikums. Weil das Herz des Publikums schlägt für den Underdog. Kurzfristig greift die "Alles ist möglich"-Devise auch in Bezug auf die Kinderdarsteller, die eine Casting-Agentur in Bombay in den Slums gesucht und gefunden hat; die Gage der Kinder wurde angelegt und steht ihnen ab dem 18. Geburtstag zur Verfügung, nach einem Ausflug nach Hollywood, Märsche über rote Teppiche und den Oscar-Regen sind sie jetzt aber wieder zurück in den Slums. Die Realität hat das Märchen im Schwitzkasen, im Film aber tritt das Märchen der Realität ordentlich in den Hintern und bietet Eskapismus mit der Botschaft "Bitte durchhalten".

Zwei Männer einander gegenüber, einer raucht und Rauchschwaden durchziehen das ganze Bild; SZene aus "SLumdog Millionaire"

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15 Fragen

Gerade noch hat Jamal am Kandidatensessel von "Who wants to be a millionaire" beim Beantworten der Fragen ein bisschen Blut geschwitzt, da soll er schon wieder was beantworten und wird gleich Blut spucken, wenn die Polizei Foltermethoden anwendet, um rauszufinden, wie es dazu kommen konnte, dass der Slumdog, der Teejunge, jetzt vor der Millionenfrage steht.
Der schmierige, beflinserlte Moderator (Anil Kapoor) der indischen Wiedergeburt der deMol Erfolgsshow ist misstrauisch, da muss was faul sein, der muss geschwindelt haben, irgendwie.
Die Eröffnungssequenz, die die beiden Interrogations-Situationen gegenschneidet, führt ein, was sich durch Jamals Lebensgeschichte zieht, nämlich dass auf jeden Hoffnungsschimmer ein Rückschlag kommt (auf einen guten Lauf in der Quizshow, die Folter der Polizei), bis Zufall und Schicksal schließlich Jamals Weg fertiggeteert haben, genau dorthin, wo er immer hinwollte. Und das waren nie vorrangig die 20 Millionen Rupien, die am Ende der 15 Fragen winken.

Märchenonkel Boyle

Regisseur Danny Boyle, der Schotte, der keinen Film zweimal macht, der von Genre zu Genre lustwandelt, immer einen wachsamen Blick aufs Trendbarometer der Populärkultur werfend in Sachen visueller Firlefanze und soundtracktechnischer Entscheidungen, serviert mit "Slumdog Millionaire" ein Märchen. Ein Märchen mit einem Erzählbogen, der Charles Dickens herbeizitiert, er erzählt von Armut, Unterdrückung, Flucht, Gewalt, von bösen Gangsterbossen und perfiden Kinderfängern. Märchenhaft auch der Erzählbaustein "Zwei Brüder, deren Wege sich trennen und irgendwie wieder zueinander finden", an denen das Märchenwelt-Wertesystem, nämlich "Gut gegen Böse" durchkonjugiert wird, allerdings in abgeschwächter Form. Statt die Brüder ganz einer Schwarz/Weiss Charakterisierung zu überlassen, geht es bei Boyle darum, den richtigen, den ehrhafteren Weg zu gehen. Denn nur der führt zum Ziel und somit in die Millionenshow. Er lässt seine Figur einen Marsch durch patriarchale Institutionen antreten und stehaufmännchenartig überwinden. Weder Polizeiapparat, noch Gangstersyndikate, noch das Showbusiness, ja noch nicht mal die Telekommunikationsbranche mit ihren irrwitzigen Krakenarmen der Globalisierung können ihn brechen.

Kind auf einem Plumpsklo hockend, Szene aus "Slumdog Millionaire"

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Kindheit in den Slums

Was "Slumdog Millionaire" zum interessanten Genre-Bastard macht, ist Boyles Einnähung der Märchengeschichte in ein real exisitierendes Umfeld - hauptsächlich die Slums in Mumbai - und der Versuch, dieses Umfeld möglichst glaubhaft auf die Leinwand zu bringen. Ein Arzt würde der Kameraarbeit Schüttelfrost und Speedkonsum diagnostizieren, doch genau diese Hektik und Geschwindigkeit bugsiert einem rein in den Film und man läuft auf Augenhöhe mit den Kindern durch die engen Gassen vor der Polizei davon. Mit umgeschnallten Kameras sind Boyles Kameraleute durch die Slums gelaufen, immer wieder zeigt eine Kamera uns die Wellblechhütten und Müllberge von oben, um einem ein Gefühl für die unfassbare Größe dieser Slums zu vermitteln. Weder holt aber Boyle aus zu großen Gesten der Armuts-Romantisierung, noch weidet er sich voyeuristisch an ihr. Der Slum ist hier schlicht und einfach nur Schauplatz und nicht Anlass, Misstände aufzuzeigen oder Sozialkritik anzubringen. In sein von Beats angetriebenes Märchen mit TGV-Gewschwindigkeit strickt Boyle ein paar Skizzen des heutigen Indiens, zwischen totaler Armut und verschwenderischem Reichtum, zwischen kolossalem Bauboom und Callcenter-Arbeitsalltag.

Weil das Märchen in einen realistischen Rahmen eingenäht wurde, griffen dann auch gleich einige Kritiker zum Realitätvermessungs-Lineal und begannen mit ihren verqueren Abmessungen. Die Slums seien viel zu arg dargestellt, nein viel zu wenig arg, Indien ist doch nicht nur ein Land der Armut, ja sogar die Latrinenklos soll so mancher so noch nicht in Indien gesehen haben und notiert dies beleidigt in der Kritik. Diese arg egozentrische Herangehensweise, eigene Erlebnisse, die somit für einen selber zur "Wahrheit" werden in Filmen zu suchen und beim Nichtfinden diesen Mangel sofort als Fehler zu notieren, gibt mir im Rezensionswald öfter Rätsel auf. Und einen Film stets nur auf seine Deckungsgleichheit mit der Realität zu überprüfen ist wohl meistens eine der uninteressantesten Beschäftigungen der Filmkritik, weil sie den Film zu einer Realitäts-Zweitverwertungsmaschinerie macht und ihn so seinem Zauber, seinem Glamour und seiner Faszination beraubt.

Proteste

Bei "Slumdog Millionaire" waren es aber nicht nur Filmkritiker, die sich ärgerten. Proteste gab es von Bewohnern der Slums, die sich nicht als "Hunde" bezeichnen lassen wollten (zugegebermaßen hätte man da bei der Titelwahl vielleicht ein zweites Mal zum Brainstorming-Termin einladen können), dem gegenüber stehen die Fernsehbilder von den frenetisch freudigen Empfängen der Kinderdarsteller in den Straßen Indien und der Jubel über den Oscar-Regen. Selbst Indiens Schauspiel-Star Amitabh Bachchan hat inzwischen seine erboste Kritik an dem Film zurückgenommen. Die einen freuten sich über Indiens Aufblinken am Radar der Filmwelt, die anderen ärgerten sich, dass das Aufblinken ausgerechnet ein Brite initiiert hat.
Aufmerksamkeitsökonimisch ist Indien jetzt für ein paar Mal Blinzeln im Rampenlicht, das wird weder etwas an der Situation der Slumbewohner ändern, noch das Bild Indiens in anderen Teilen der Welt prägen, nur schreibt sich Danny Boyle solche Vorhaben ohnehin gleich gar nicht auf die Fahnen, "Slumdog Millionaire" ist Unterhaltung in gewohnt hypnotischer Boyle-Manier, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Liebespaar am Bahnsteig; Szene aus "Slumdog Millionaire"

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Potentieller Impuls

Interessant könnte werden, ob "Slumdog Millionaire" einen Impuls in der indischen Filmwelt setzt, ob der große Erfolg den Bollywood-Schinken Produzenten den Floh ins Ohr setzt, vielleicht auch mal ein paar Gramm Realitätssinn - und ein paar Blicke auf untere Gesellschaftsschichten zu werfen - in die Filme einfließen zu lassen. Zwar gibt es auch indische Filme abseits Bollywood-Mechanismen, nur sind die alles andere als Publikumsmagnete und außerhalb Indiens auch eher außerhalb der Wahrnehmungsgrenze. "Indien lebt in Dharavi. Aber unsere Filme handeln von Disneyland", zitiert der Standard den indischen Filmemacher Mahesh Bhatt. "Slumdog Millionaire" ist zwar Märchen, doch von Disney-Parametern weit entfernt.

Der Film zur Krise

Mit einem verflixt guten Timing tauchte "Slumdog Millionaire" auf, in einem Moment, als die "Krise" von einem abstrakten Konstrukt, das "die anderen" betraf, zu etwas wurde, das Auswirkungen im eigenen Lebensumfeld hatte und präsentierte Hoffnung verpackt in der Parole "Durchhalten". Denn wenn auf Finanzmärkte und Börsen kein Verlass mehr ist, dann zumindest auf die Liebe. Und die Gameshow. Und alles, was einem passiert, so schlimm es auch sein mag, kann vielleicht eines Tages von Nutzen sein.

Filmplakat zu "Slumdog Millionaire"

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Neues aus der Welt der typografischen Serientäter: Das Plakat zu "Slumdog Millionaire"

Die "Tellerwäscher zum Millionär"-Werdung ist fixer Bestandteil Hollywoods (und des Selbstverständnis der USA), umgelegt auf Indien und das Kastenwesen potenziert sich das Wunder um die die Millionärswerdung des Jungen aus den Slums natürlich ums Vielfache.
Im Gegensatz zu den meisten anderen from rags to riches Erfolgsgeschichten, ist aber die Figur des Jamal der Passivität verpflichtet, er lässt sich treiben und wird getrieben, zwar will er seine Kindheitsfreundin Latika finden, doch selbst die Suche nach ihr ist keine fieberhafte. Für Jamal ist es Schicksal, dass er sie wiederfinden wird - allen Rückschlägen zum Trotz. Auch diese Haltung, das Abgeben des eigenen Glücks an die große Unbekannte "Schicksal" ist vielleicht in krisengebeutelten Zeiten eine trostreiche Variante in Sachen Weltanschauung und verpflegt aufgerissene Sorgendwunden des Publikums mit sedierender Hoffnungssalbe. Es wird alles irgendwie gut, flüstert "Slumdog Millionaire", bevor er einem mit einer Gesang/Tanzeinlage zudeckt und Gute Nacht wünscht.