Erstellt am: 22. 3. 2009 - 15:31 Uhr
Hoch die Gläser! Auf das Kino!
Jetzt muss man ihn wieder ein bisschen in Ruh' lassen, den österreichischen Film. Sechs Tage lang wurde er kritisiert und gefeiert, zum Maß aller Dinge gemacht, jedes kleine Übel, jede große Überraschung diskutiert. Jetzt braucht er etwas Entspannung, zweifelsfrei.
Die Diagonale, die erste unter der Leitung von Barbara Pichler, ist zu Ende und man muss sagen: Schön war’s! Die Neo-Direktorin hat vieles richtig, kaum etwas falsch gemacht, hat ihrem Programm Raum zum Atmen gegeben, vorsichtige Schwerpunkte und Schlaglichter gesetzt. Freilich wäre es mir persönlich lieber, es würde etwas mehr krachen, es würde etwas mehr auf hohem Niveau gestritten, es wäre nicht alles gar so geschmeidig.
Aber ich akzeptiere diese Diagonale; und wenn man sich ehrlich ist: So viel Spielraum hat man bei diesem Festival ja programmlich gar nicht. Es ist eine Leistungsschau, die auch internationalen Gästen die Gelegenheit bieten soll, den Vorjahresoutput des österreichischen Films zu betrachten. Dann kann man eben das eine hervor- und das andere darunter heben, die eine oder andere Personale (in diesem Jahr etwas zur hochsympathischen und sehr guten Avantgardefilmemacherin Mara Mattuschka) einrichten, ein vernünftiges Abrundungsprogramm organisieren.
Freuden der Vergangenheit
Echt fein sind bei der Diagonale alljährlich die von befreundeten Institutionen (wie etwa Synema. Gesellschaft für Film oder dem Österreichischen Filmmuseum) kuratierten historischen Programme: Anna Gmeyner, eine Wienerin, die zuerst in Paris, später dann in London gelebt hat, stand im Mittelpunkt einer fünf Filmprogramme umfassenden Schau. Als Drehbuchautorin hat sie etwa mit dem deutschen Regisseur G.W. Pabst zusammen gearbeitet (bei Du haut en bas, 1933), später dann in Großbritannien geschrieben. Ihre Texte (Romane wie „Automatenbüffet“ gehören zu den Klassikern der Exilantenliteratur) sind getragen von beißendem Dialogwitz, in dem sich die sozialen Ungerechtigkeiten der Zeit bzw. Ahnungen vom bevorstehenden Horror sowie Verarbeitungen desselben nach seinem Eintritt, abdrücken.
In dem von ihr mit geschriebenen Drehbuch zu The Passing of the Third Floor Back (Regie: Berthold Viertel, 1935) beschreibt Gmeyner eine „snobby society“, die in einem Boarding House in Kensington residiert, als gefühlsleere und reaktionäre Bagage: alles Schein, kaum Sein; täglich plärren sie dieselben Stehsätze aus; das Leben als konstante Statusbestätigung. In dieses unangenehme, homogene Soziotop bricht eines Abends ein fremder Gentleman ein (großartig gespielt von Conradt „Conny“ Veidt), der durch seine fast übernatürliche Ruhe und Güte – das Drehbuch positioniert ihn als Jesus-Figur – die Menschenverachtung und emotionale Härte dieser affektierten Interessensgesellschaft aufbricht.
Eine ähnliche Grundstruktur hat das Sozialdrama Pastor Hall (1940), eine von zwei Langfilmkollaborationen zwischen Gmeyner und dem Briten Roy Boulting. Das Paradefallbeispiel des kleinen deutschen Orts Altdorf – im Studio schwarzwaldromantisch errichtet; die Glocke im Kirchturm datiert zurück aufs 18. Jahrhundert – und seiner friedlichen, hilfsbereiten Gemeinschaft, in die eines Tages ein Battalion deutscher Soldaten einbricht und die NS-Durchideologisierung will, Hass sät: antisemitische Plakate hängen auf Steinmauern, es folgen Plünderungen, Vergewaltigungen, Morde. Mittendrin steht der grundgütige Pastor Hall, der sich ohne mit der Wimper zu zucken oder über die Konsequenzen nachzudenken, gegen die Nazi-Soldaten in Stellung bringt.
Freuden der Gegenwart oder: Das Vaterspiel
Im Vergleich mit humanistischen Meisterwerken dieses Kalibers haben es freilich die aktuellen Produktionen besonders schwer, noch hervorzustechen. Zum großen Glück der Zuschauer und Festivalbesucher wurde die diesjährige Diagonale bereichert von gleich zwei neuen – und grundverschiedenen Arbeiten – eines der außergewöhnlichsten, frischesten und frechsten Regisseure Österreichs: Michael Glawogger beherrscht viele Gangarten des Kinos, in seinem Werk reihen sich stilisierte Dokumentarfilme wie Workingman’s Death an infantile Komödien wie Nacktschnecken an Gesellschaftstragikomödien wie Slumming.
Berlinale
Gemein ist ihnen allen eine Transzendenz der Genrespielregeln: das sieht man vielleicht an keinem von Glawoggers Filmen so gut wie bei Das Vaterspiel, der am Samstag Abend vollkommen zu Recht mit dem Großen Preis der Diagonale als bester Spielfilm (bester Dokumentarfilm wurde ebenso verdient Constantin Wulffs Geburtenfilm In die Welt) ausgezeichnet worden ist. Die Verfilmung von Josef Haslingers Roman debütierte bereits auf der Berlinale im vergangenen Februar, wurde dort allerdings nur lauwarm begrüßt. Zu radikal setzt sich Glawogger darin ins vorgemachte Bett des „anspruchsvollen Schauspielerkinos“, nur um sämtliche Gemütlichkeitsgewohnheiten und Gefühlserwartungen zu unterwandern, wenn nicht gleich zu zerschlagen.
Helmut Köpping spielt den unselbstständigen Bürgerlichensohn Ratz mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und gelangweilter Rebellion, der ein Computerspiel programmiert, in dem er Avatare seines Politikervaters (ein Castingcoup: Christian Tramitz) abschießt. Sein Leben verknüpft sich mit dem von Mimi (Sabine Timoteo), einer entrückten Frau mit Pagenkopf, die ihren Bekannten Ratz aus ihrem New Yorker Loft anruft und um Hilfe bittet: er soll für ihren Großvater, einen gesuchten Nazi-Verbrecher, ein Kellerversteck ausbauen. Dazu geschnitten wird als dritte Erzählebene die Anklage des Juden Jonas (Ulrich Tukur), der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Mörder seiner Familie finden will.
Diagonale
Es ist eine ungnädige Versuchsanordnung zum Themenkomplex Schuld- und Lebensbewältigung, von Glawogger außergewöhnlich unbequem inszeniert: er hat kein Interesse daran, den Zuseher mit einer leicht verdaulichen Geschichte zu füttern, will sich nicht der Schimäre einer in zwei Stunden abzuhandelnden Historie hingeben. Er zeigt Identitätsfragmente, seine Figuren funktionieren lediglich als Konstrukte in diesem grausamen Spiel, das vor allem auch die Hilflosigkeit des Gegenwartsmenschen in seiner Auseinandersetzung mit Holocaust und Kollektivschuld aufzeigt. Der Ratz rebelliert gegen seinen Vater, weil es einfach und gefahrlos möglich ist; wenig später baut er einem Nazi eine Luxusresidenz: alles an diesem Film ist ein Paradoxon und Glawogger lässt den Zuschauer darin hocken, klärt nichts auf. Auf der Tonspur musiziert Olga Neuwirth; alles hier ist Disharmonie, eine Kakophonie, ein Meisterwerk.
Freuden der Gegenwart oder: Contact High
Die totale Schwärze dieses Films wird vielleicht am eindringlichsten konterkariert vom zweiten Glawogger-Film im Diagonale-Programm: der knatterbunte, surreale Contact High ist Österreichs erste Kifferkomödie. Wie es sich für dieses weithin unterschätzte, subversive Subgenre gehört, ist die Geschichte Nebensache: die Figuren können ihr ebenso wenig folgen wie die Zuschauer. Es geht jedenfalls um vier verschiedene Taschen, die miteinander verwechselt werden, obwohl sie sich nicht ähneln, es geht um Volksschulkinder im Drogenrausch, ums Stranden in einem Kaff namens Drogomysl, um tanzende Hunde und Riesenhühner. Glawogger treibt die Spielregeln des Genres, das eigentlich keine Spielregeln kennt, auf die Spitze, lässt seine formidable Besetzung (unvergesslich etwa das vielleicht schönste Paar des österreichischen Kinos Georg Friedrich mit blonder Mähne und Detlev Buck als tuntiger Autowerkstattbetreiber in Lederkluft) in Nonstop Nonsens-Sequenzen zur Hochform auflaufen, ist dabei inszenatorisch einfallsreich und überzeugend.
Luna Film
Die Preise der Diagonale 2009
Die Diagonale-Preise 2009 gehen an:
Großer Diagonale-Preis Spielfilm: Michael Glawogger (Das Vaterspiel)
Großer Diagonale-Preis Dokumentarfilm: Constantin Wulff (In die Welt)
Diagonale-Preis Innovatives Kino der Stadt Graz: Michael Palm (Laws of Physics)
Diagonale-Preis der Jury der Diözese Graz-Seckau: Bernhard Braunstein und David Gross (Pharao Bipolar)
Diagonale-Preis der Jugendjury des Landes Steiermark: Marvin Kren (Schautag)
Diagonale-Preis Schnitt des Verbandes Film- und Videoschnitt aea: Anja Schürenberg (Rimini / Spielfilm) und Michèle Barbin (PianoMania / Dokumentarfilm)
Diagonale-Preis Bildgestaltung des Verbandes Österreichischer Kameraleute AAC: Enzo Brandner (UNIVERSALOVE / Spielfilm) und Nikolaus Geyrhalter (7915KM / Dokumentarfilm)
Diagonale Publikumspreis: Marco Antoniazzi (Kleine Fische)
BMUKK-Würdigungspreis für Filmkunst: Götz Spielmann
BMUKK-Förderungspreis für Filmkunst: Billy Roisz und Peter Schreiner
Preis Innovative Produktionsleistung der VAM Verwertungsgesellschaft für audiovisuelle Medien GmbH: Dor Film (Hexe Lilli) und Bonusfilm (Echte Wiener)
Abspann
Die Diagonale 2009 geht am heutigen Sonntag zu Ende. Für mich war sie ein Erfolg und wenn Frau Pichler ihre zarten Neuerungen auch im nächsten Jahr noch weiter treibt, wenn das Konventionen sprengende Kino von Michael Glawogger weiterhin Zuspruch findet, dann bin ich mit dem österreichischen Film bereits mehr als zufrieden.
Ja, und wir müssen gar nicht mehr so lange auf das nächste heimische Filmfestival warten: am 20. April fällt der Startschuss zum Crossing Europe in Linz. Eröffnet wird in diesem Jahr unter anderem mit Maren Ades sensationellem, in Berlin ausgezeichneten Beziehungsfilm Alle anderen und mit der Rückkehr eines ganz besonderen Leinwandgottes: Jean-Claude Van Damme. Ich freue mich!