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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

12. 3. 2009 - 18:03

Journal '09: 12.3.

Winnenden, Losenden. Über die Projektionsfläche Amoklauf.

Gestern abend: zwei New Yorker Cops ermitteln in einem Fall von Mord und struktureller Gewalt in einer Elite-Schule, kommen dabei mit der so üblen, weil so inoffiziellen Klassen-Distinktion, mit Generation-Gap-Dramen, mit falschen elterlichen Erwartungshaltungen und Cliquen-Terror in Berührung; und natürlich auch mit den neuen Medien, über die die zentrale Intrige gesponnen wurde. Fiction, realistische, zufällig sehr passende.

Später fährt eine sehr ruhige Kamera ein paar Plätze und Innenräume im nächst Stuttgart gelegenen Städtchen Winnenden ab, schnappt dort stille Zusammenkünfte stiller Menschen auf, auf einer großen Kirchentreppe etwa vor einem großen, recht leeren, der Abenddämmerung entgegenwartendem Platz. Es gibt keinen Off-Text, nur ein paar Worte, die Ansässige in eine Art Open Mike sprechen.

Noch später diskutieren die Fachmenschen, auch im weit entfernten Wien, über einen Vorfall, der immer wieder Begriffe wie "unfassbar", "sinnlos", "unwartet", "unvorhersehbar", "ohnmächtig" evoziert.

Krisen-Kommunikation ist Moral-Kommunikation

Das, was angesichts von Krisen oder (wie im jüngst besprochenen Beispiel hier am Beispiel des öffentlichen Skandals) durchexerziert wird, ist immer eine Werte-Debatte.

Man nimmt die allgemeine Verstörung zum Anlaß abzuklopfen, ob man, im Kollektiv, immer noch ähnliche Werte vertritt. Das ist eine zutiefst ritualisierte Kommunikation, die großteils inhaltlich komplett sinnentleert stattfindet (stattfinden muss) um den Schock zu kompensieren.

Im seltenen Fall von Amokläufen findet dann etwas statt, was ich Projektion in Reinkultur nennen möchte.
Der durch keine sichtbaren Motive ausgelöste mörderische Furor, der im Normalfall auch keine seriösen Anhaltspunkte bietet, der wirkt für uns ein weißes Blatt Papier - das (aus einem seltsamen inneren Impetus) von uns beschrieben werden muss.

Deshalb kommt es nach Vorfällen dieser Art dann auch zu diesen verbalen Zusammenrottungen (sei es via Medien, sei es privat) die - per Ferndiagnose, also per lachhafteste Küchenpsychologie - versuchen Sinn aus dem Sinnlosen zu ziehen. Weil das natürlich nicht gelingen kann, machen die Menschen das, was sie am Besten können: sie rechnen sich selber hoch, sie projizieren.

Projektion in Reinkultur

Wenn die gesamte Heerschaar der professionellen und das unübersehbare Heer der amateurischen Experten (an vorderster Stelle ganz Winnenden und Umgebung) auch nur einen Bruchteil ihrer Kraft darin setzen würden, mit verwirrten Teenagern am Abgrund des Karriere-Planungs-Schicksal auseinanderzusetzen, würde nie irgendjemandem etwas Böses passieren. Das ist kein Vorwurf, weil natürlich unmöglich.

Aber: wenn sich diejenigen aus der direkten Umgebung des Amokläufers auch nur ein Promille der Zeit, die sie jetzt mit guter Analyse/wirrem Gerede/blödem Gefasel auf den Fall verwenden, darin investiert hätten sich auf ein oder zwei oder drei Gespräche mit dem Burschen einzulassen, als sie die Möglichkeit dazu hatten (anstatt lieber ihrer Wege zu gehen, oder Überforderung vorzuschützen), dann hätte es niemals einen Amoklauf gegeben.

Instinktiv wissen das eh alle. Die, die sich schuldig fühlen, und auch die, die weiter weg sind, und sich deshalb schuldig fühlen, weil sie es bei den Menschen in ihrer Umgebung nicht anders praktizieren.
Und weil diese Schuld lastet, braucht es ein Ventil.
Am Schuldigsten fühlen sich die, die sofort wieder nach lachhafter Spiele-Zensur kreischen. Und die, die den bigotten "Man hätte es doch verhindern können!"-Chor anstimmen, nur weil man jetzt draufgekommen ist, dass der Amokläufer in einem Chat entsprechendes geäußert hat - und jetzt "dem Internet!" die Schuld geben.

Was hinter dem gern unbedacht verwendeten Schlagwort "Mobbing" steckt -> hier

Andere wissen genau: dieses "Mobbing" wäre schuld, also auch das neue Zeitalter der Grausamkeit, weil es sowas "früher" ja nicht gegeben hatte.

Games, Mobbing, Internet, Waffenkult

Hinter diesen Frontschweinen ducken sich die Horden der Projizierer. Weil die Tat hauptsächlich weibliche Opfer gefordert hat, muss es, so nicken sie sich das gegenseitig versichernd zu, ein tiefsitzendes Motiv, einen Frauen-Komplex geben - eh klar, 17jähriger Loser, der kein Mädchen abgreift. Und sich dann ins Schießen flüchten muss, das ihm der sorglose Vater ebenso erleichtert, wie die private Handhabung von Waffen.

All dieses Gerede sagt extrem viel aus.
Und zwar über die, die es daherreden.
Über den tatsächlichen Fall, Täter/Opfer erzählt uns dieses Gerede genau gar nichts.

Es darf ausschließlich dazu herhalten, die direkte Schuldzuweisung, die der Amokläufer als Markstein in den öffentlichen Raum gesetzt hat, wegzuplappern. So wie man ja sonst auch gern glaubt, dass sich durch Geschwätz, durch Drumherumreden, durch Ablenken das eigentliche Problem in Luft auflöst. Egal ob beim Parkzettel, in der Beziehung oder im öffentlichen Diskurs. Bei einer durchschnittlichen Aufmerksamkeitsspanne einer Homer-Simpson-Einheit (wenige Sekunden) geht das auch meist durch.

Weil ich keine bessere Referenz zum Thema kenne: sehet Elephant von Gus van Sant.

Plapperplapper - und schon gehts um böse Computerspiele oder Mädchenhass. Und nicht um das eine Promille der Zeit, die wahrscheinlich gereicht hätte, um etwas subjektiv Unausweichliches in eine andere Richtung zu drücken.