Erstellt am: 10. 3. 2009 - 19:12 Uhr
Die Kunst, Chanel zu sein
"Coco avant Chanel", also Coco vor Chanel. In Frankreich wird ab April der Film über die frühen Jahre der revolutionären Modeschöpferin zu sehen sein, gerade eben ist der Trailer dort herausgekommen. Und zum traditionellen Zeitpunkt "irgendwann bald" wird's ja dann auch bei uns was mit dem Release werden. Hier jetzt mehr über die Kindheit und Jugend der Frau, die in Wirklichkeit weder Coco noch Chanel hieß, und sich und die Schneiderkunst neu erfand.
Die kleine Krawatte, die hier abgeschnitten wird, heißt Lavallière.
Paul Morand: "Mit Chanel triumphierte das Land über die Stadt, wie zwanzig Jahre davor in der Literatur mit Colette,
die im gleichen Schulmädchenkittel in Paris auftauchte, mit der gleichen Lavallière, den gleichen Waisenhausschuhen."
L'allure de Chanel
Audrey Tautou, die "Amelie", spielt die Modeschöpferin mit der Kippe im Mundwinkel, dem bis auf die Ohren herabgezogenen Hut und den tausenden Perlenketten um den Hals, die ihr ein russischer Großfürst geschenkt hatte.
Coco revolutionierte die Silhouette der Frau, weg vom Korsett, fand braune Haut schick und schwarz und weiß als Farben für Stoffe absolut genügend. Sie schneiderte Schlichtheit. Wie viel Wahrheit in "Coco avant Chanel" stecken wird, sei dahingestellt.
Allerdings hat auch Coco Chanel schon zu Lebzeiten ihre Biographie ordentlich umgeschrieben.
Bis der Chanel Film startet, und eigentlich sind es ja zwei, in einem weiteren wird die Beziehung zwischen Chanel und Strawinsky in Szene gesetzt werden, bis dahin also empfiehlt die FM4 Moderedaktion a.k.a. moi das Buch "Die Kunst, Chanel zu sein".
Knister, Knusper, Prassel

Verlag Schirmer und Mosel / Horst P. Horst, 1937
Paul Morand /Coco Chanel: "Die Kunst, Chanel zu sein" (Verlag Schirmer/Mosel).
Im Winter 1946 im mondänen Palace Hotel in St. Moritz vor dem Kamin, sie ist damals 63 Jahre alt, erzählt Coco ihrem alten Freund, dem Autor Paul Morand, ihre Lebensgeschichte. Sie hat die berühmtesten und reichsten Männer der Welt gehabt. Dimitri Pawlowitsch, Neffe des Zaren, der ihr die Perlen der Romanoffs geschenkt hat. Igor Strawinsky, Komponist. Der britische Herzog von Westminster, der damals reichste Mann der Welt. Zwischendurch diverse Poeten, Autoren, Industrielle, Impresarios und Tänzer. Coco ist eine sehr unabhängige Frau, und keiner kann sie halten. Vielleicht weiß sie mit Nähe nichts anzufangen, vielleicht hat sie auch Angst davor: In ihrer Kindheit, wie wir gleich sehen werden, haben Nähe und Liebe keine große Rolle gespielt.
"Manchmal verlaufe ich mich im Labyrinth meiner Legende."
Coco durchschaut die Menschen und kommt doch nicht mit ihnen zurecht. Ihre Zunge ist noch spitzer als die ihres Nachfolgers Karl Lagerfeld, sie notiert ihre Aphorismen und perfektioniert sie. Sie stellt verarmte Adelige als Verwalter und Mannequins an, damit die das lästige Socialising in der Hautevolée erledigen. Copyright ist ihr schnurzegal, sollen sie doch ruhig alle kopieren.
"Aber ja, natürlich! Ist eine Erfindung erst einmal gemacht, soll sie sich ruhig in der Namenlosigkeit verlieren. Ich wüsste meine Ideen gar nicht alle auszuschöpfen, und es ist mir eine große Freude, wenn ein anderer sie in die Tat umsetzt, manchmal geschickter als ich. Daher hatte ich jahrelang immer wieder Zwist mit meinen Kollegen; was für sie ein großes Drama ist, existiert für mich garnicht: Die Kopie."
Die vielen Chanel- und sonstigen Fakes, die bei der Ars
Electronica am Linzer Hauptplatz damals live zerhäckselt worden sind, hätten Chanel wohl nur einen gleichgültigen Lungenzug von der Zigarette gekostet.
Voll daneben ist auch vorbei
Manchmal gibt sie sich aber auch ganz verstockt, erklärt zum Beispiel "die Schwulen" in einem Rundumschlag zu den "Feinden der Frauen", sie würden einem zu unvorteilhaften Nagellackfarben raten und hätten grüne Zähne.
Des Weiteren: Frauen und Geld, das passe einfach nicht zusammen –
ein seltsamer Standpunkt für eine Frau, die 1935, nach 25 Jahren im business zirka 4.000 Angestellte beschäftigte und um die 28.000 Modellkleider pro Jahr in alle Welt lieferte. Für eine Frau, der immer klar war, dass Geld Unabhängigkeit bedeutet. Eine Frau, die immer betont hat, dass nur harte Arbeit sie so weit bringen konnte.
Avant Chanel, Avant Coco
"Hier, in diesem hellerleuchteten Hotel, wo die Reichen ihr Vergnügen und ihre betriebsame Erholung suchen, will ich ihnen aus meinem bisherigen Leben erzählen. Für mich gab es ohnehin, ob in der Schweiz von heute oder in der Auvergne von damals, immer nur das Alleinsein.
Schon mit sechs Jahren war ich allein. Meine Mutter war gestorben, und mein Vater entledigte sich meiner wie einer Last, gab mich bei meinen Tanten ab und war auch schon wieder auf und davon nach Amerika, von wo er nie mehr zurückkehren sollte."
Bei den Tanten in der Auvergne spielt Coco gerne mit ihren selbstgenähten Puppen auf dem Friedhof im hohen Gras, ihre Lieblinge dort sind zwei namenlose Grabstätten. Sie erzählt, wie sie auf deren Granit- und Basaltplatten spielt.
"Ich wollte sicher sein, geliebt zu werden, und lebte unter erbarmungslosen Menschen. Dass ich so gerne Selbstgespräche führe und nicht beachte, was man mir sagt, erklärt sich vielleicht daher, dass die ersten Wesen, denen ich mein Herz geöffnet habe, Tote waren."
(Hier wäre im Hintergrund Musik von Soap and Skin ganz gut, denke ich.)

Auvergne Tourism Office
Die vulkanischen Berge und grünen Matten der Auvergne, vom dortigen Fremdenverkehrsamt aus gesehen.
When I was a child
Bei den Tanten ist "Liebe Luxus und Kindheit Sünde", dafür ist so viel Bettwäsche vorhanden, dass nur zweimal im Jahr gewaschen werden muss. Für einen Moment verwandelt sich die 63jährige Coco Chanel vor dem Kamin in St. Moritz wieder zurück in die sich leidenschaftlich sträubende 6jährige, die von ihrem Vater abgegeben wird:
"Man schnäuzte den Docht der Lampe, um mein Gesicht genauer zu betrachten. Meine Tanten hatten bereits zu Abend gegessen, wir nicht. Sie waren überrascht, dass jemand, der den ganzen Tag über gereist war, noch nicht gegessen hatte. Das brachte ihren Stunden- und Küchenplan durcheinander, aber schließlich überwanden sie ihre herbe provinzielle Strenge und erklärten unwillig: "Wir werden euch zwei Eier kochen." Die kleine Coco spürte diesen Unwillen und fühlte sich verletzt. Sie starb schier vor Hunger, doch als die Eier vor ihr standen, schüttelte sie den Kopf, lehnte ab, sträubte sich und erklärte lautstark, sie möge keine Eier, Eier wären ihr widerlich.
In Wirklichkeit aß sie leidenschaftlich gern Eier, doch nach dieser ersten Begegnung in dieser finsteren Nacht musste sich einfach "Nein" sagen, zu allem, egal was es war, musste sie alles, was sich bot, aus vollem Herzen ablehnen, diese Tanten, das ganze Drumherum, dieses neue Leben".
Die Wirklichkeit wird überbewertet
Ja, und dann sag ich: Sie hat ihr Alter frisiert. Sie war damals schon zwölf. Sie hat auch das Waisenhaus unterschlagen. Nicht, dass das schlimm wäre. Lügen geben einem wenigstens ein kleines bisschen das Gefühl, Herrin der Lage zu sein. Auf den fast 200 Seiten von "Die Kunst, Chanel zu sein"schraubt sie an ihrer Legende, soviel Morands Ohren vertragen.
"Dies ist, kurz gesagt, alles, was ich zu mir zu sagen habe. haben sie es begriffen? Nun ... das Gegenteil von all dem bin ich auch."