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Thomas Edlinger

Moderiert gemeinsam mit Fritz Ostermayer "Im Sumpf".

9. 3. 2009 - 16:25

Die Rebellion der Zellen

Alban Lefrancs Buch "Angriffe" erzählt vom Leben dreier Ausnahmefiguren: Fassbinder, Vesper, Nico.

BuchcoveAngriffer "Angriffe", Alban Lefranc

Blumenbar Verlag

"Angriffe" von Alban Lefranc ist im Blumenbar Verlag erschienen.

Schon der erste Satz dieser Kompilation dreier Kurzromane vor dem Hintergrund des Deutschen Herbsts und seiner Vorboten schlägt einen bislang kaum gehörten Ton an: "Man betritt einen Toten wie eine Windmühle." Der erste zu erforschende Tote heißt Rainer Werner Fassbinder, später wird es noch um den Nazidichter-Sohn Bernward Vesper und dann noch um die toten Augen von Nico gehen.

Alban Lefranc, der Urheber solcher Sätze, ist Franzose, doch als Übersetzer und Chefredakteur einer deutsch-französischen Literaturzeitschrift hat er offenbar ein Faible für den Geist, der im Mief der westdeutschen Nachkriegszeit geboren wurde und sich später in verzweifelten, kaputten, traurigen, heroisch-wahnhaften, selbstzerstörerischen, kompromisslosen, verlorenen und letztlich auch exemplarisch schönen Lebensentwürfen verschwendete.

Dazu noch so ein Satz, der in diesem großartigen und dichten Werk so unerwartet daherkommt wie jene "Axt für das gefrorene Meer in uns", wie sie Kafka einst als Bild für essentielle Bücher einforderte ("La mer gelée" – "Das gefrorene Meer" ist übrigens auch der Titel von Lefrancs Zeitschrift): "Schlafen ist unmöglich, wenn man erst einmal die Augen geöffnet hat", heißt es irgendwann programmatisch in diesen virtuosen Verschneidungen von Fiktion und Dokumentation namens "Angriffe".

Mehr Lesestoff
gibt es auch unter fm4.orf.at/buch

"Angriffe", hervorragend übersetzt von Katja Roloff, versammelt drei Kurzromane des französischen Autors, die vom Leben dreier Ausnahmefiguren (Fassbinder, Vesper, Nico) ausgehen. Diese horchen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (ähnlich wie die luziden Sprachstudien des Psychohistorikers Klaus Theweleit zum "Ticken" von Terroristen in Stammheim oder von Dichterstimmen in Romanen) auf den fast physisch greifbar erscheinenden Eigensinn und sein Abgleiten in neu verschaltete Wahrnehmungsformen ab.

Lefranc gelingt es, nicht zuletzt aufgrund seiner suggestiven Montagetechnik, die Radikalität dieser drei Künstlerikonen als eine Art Rebellion der Zellen gegen die Zumutungen der Wirklichkeit zu deuten, die auch jeden anderen Körper hätte befallen können – also auch dich und mich.

Dieser Anspruch von Freiheit äußert sich auch im Wechselspiel der Erzählpositionen und -formen. Lefranc wechselt nicht nur zwischen eingeschobenen Originalzitaten und einfühlenden biografischen Passagen, sondern auch zwischen dem vertraulichen Du und dem distanzierten Sie bei der Anrede von Fassbinder, Vesper und Nico. Der Text macht so, bei all seiner hypnotischen und erhellenden Wirkung, seine Konstruiertheit mehr als transparent: Wir wissen, hier haben wir es nicht mit der Wahrheit, sondern mit der literarischen Produktion von Wahrheitseffekten über Personen und ihre Zeit zu tun.

Rainer Werner "Schlafen kann ich wenn ich tot bin" Fassbinder zeigt der 34-jährige Franzose als einen Getriebenen, der über sich hinaus will. Der seine Wut auf die Gesellschaft und das Ich, das sie aus ihm gemacht hat, in exzessiven Produktions-, Sex- und Drogenwahn transformiert. Alles wird hier zum Taumel, zur obsessiven Arbeit am Anders-Werden. Fassbinder ist bei Lefranc jemand, der keine Liebe und keine Täuschungen mehr kennen will und doch im Zentrum der künstlerischen Aufmerksamkeit und der sexuellen Ausschweifungen stehen muss.

Der zweite "Angriff" handelt vom Schriftsteller Bernward Vesper. 1938 geboren als Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper, befreit er sich bei Lefranc aus dem Zwinger des geliebt-gehassten, verehrt-gefürchteten Vaters ausgerechnet durch eine Liaison mit der späteren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, mit der er auch ein Kind zeugt. Später wird er weiterhetzen in die Freiheit, immer weiter weg vom väterlichen Zwinger, mit Drogen und linken Ideen im Gepäck, bis sich die lange Leine am Ende doch straff um seinen Hals legt und ihn in den Selbstmord treibt. Sein psychedelisch dröhnendes Romanfragment "Die Reise" wird erst sechs Jahre danach veröffentlicht werden.

Am Ende des Buches schließlich lauert der dritte Teil über eine, die schon bald wegging aus D-Land, die aber nirgendwo je ankam: Nico. Im früheren, schon bald wie eine Zigarettenkippe weggeschnippten Leben Christa Päffken und ein Teenager, der nicht funktionieren will.

Programmtipp

Mehr von Thomas Edlinger über "Angriffe" von Alban Lefranc gibt es heute, Montag, ab 19 Uhr in der FM4 Homebase zu hören.

Nico mutiert bei Lefranc zum Schattentier, das schon als Model den Plan fasst, sich bzw. den Schmerz und die Langeweile auszulöschen. Es wird ihr zunächst nicht gelingen, weder als Muse bei Andy Superstar noch als Sängerin bei Velvet Underground, weder in den Armen von Alain Delon noch in den Anflutungen des Heroins. Erst 1988 wird sie, in der einen Sog ins Nichts produzierenden Lesart Lefrancs, ein Fahrradunfall auf Ibiza erlösen. In seiner Sprache liest sich der Tod Nicos so: "Sie ließen den Lenker los, starrten fest in seine Augen, die nicht gelb waren, und Sie stürzten sich auf ihn, mit Würgehänden."