Erstellt am: 5. 3. 2009 - 16:15 Uhr
Fremder Zusammenhalt
von Reinhard Krennhuber & Alexander Nebel
Dieser Artikel erscheint auch in der aktuellen Ausgabe des ballesterer
Ajax Amsterdam und Tottenham Hotspur sind keine jüdischen Klubs. Teile ihrer Anhängerschaft haben jedoch eine "prosemitische" Fankultur adoptiert, die vor allem zwei Aufgaben erfüllen soll: antisemitischen Angriffen gegnerischer Fans den Wind aus den Segeln nehmen und den Zusammenhalt in der eigenen Gruppe stärken.
Schauplatz Amsterdam. Die niederländische Hauptstadt blickt auf eine lange Tradition jüdischen Lebens zurück. Über Jahrhunderte waren Juden nirgendwo in Europa dermaßen akzeptiert und gleichberechtigt wie hier. Der Amsterdamer Slang ist noch heute voller jiddischer Begriffe. Vor dem Einmarsch deutscher Truppen am 15. Mai 1940 lebten 80.000 Juden im "Jerusalem Europas", beachtliche 13 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Der AFC Ajax hatte zwar seit jeher jüdische Fans, Spieler und Funktionäre war jedoch im Gegensatz zum Stadtrivalen FC Blauw-Wit, der bis in die 1970er Profifußball spielte, kein jüdischer Klub. Als im Herbst 1941 die anti-jüdischen Verordnungen der Nationalsozialisten wirksam wurden, mussten nur zwölf von 431 Mitgliedern den Verein verlassen. Mithilfe der Netzwerke des Klubs wurde jedoch vielen jüdischen Bürgern zur Flucht verholfen. Die Verbindung war in erster Linie eine lokale, stand das legendäre Stadion De Meer, in dem Ajax von 1934 bis 1996 seine Heimspiele austrug, doch in der direkten Nachbarschaft des jüdischen Viertels im Osten der Stadt.
Zischlaute und Revolverkugeln
Ab den erfolgreichen 1970er Jahren, in denen Ajax zwei Mal den Europacup der Meister holte, sahen sich die Amsterdamer Fans bei Auswärtsfahrten vermehrtem Antisemitismus ausgesetzt. Als 1980 Utrecht-Fans ein Banner mit der Aufschrift Ajax aufhängten, in dem die A’s durch Davidsterne und das X durch ein Hakenkreuz abgebildet waren, drehten die derart Angegriffenen die Speerspitze der Beleidigungen einfach um, indem sie eine weitgehend künstliche Identität annahmen. Fortan zierten jüdische Symbole und israelische Fahnen die Sektoren im De Meer, begleitet von Sprechchören, in denen die Stärke der "Super Joden" besungen wurde. Der Anteil jüdischer Zuschauer bei Ajax war zwar höher als heute, aber auch damals waren die Juden nur eine Minderheit im De Meer.

EPA
Wesentlich beeinflusst wurde diese Entwicklung von den Ajax-Casuals, die sich in der 1976 gegründeten und heute noch aktiven F-Side formierten. Das Logo der Gruppe ziert ein von einem Davidstern umrandetes F. Zum Hauptaustragungsort der Fankonflikte wurden neben Matches in Utrecht oder Den Haag vor allem die Spiele gegen den Erzrivalen Feyenoord. Die Zischlaute von Rotterdamer Fans, die ausströmendes Gas imitieren sollten, erlangten ebenso traurige Berühmtheit wie der Sprechchor "Hamas, Hamas, joden aan het gas!" ("Hamas, Hamas, Juden ins Gas!"). Aber auch die Gegenseite ließ es nicht an Radikalität mangeln. Nachdem die Saisoneröffnung Feyenoords 2002 von antisemitischen Kundgebungen begleitet worden war, erhielt Trainer Bert van Marwijk Drohbriefe mit Revolverkugeln, gezeichnet unter anderen von einer Gruppe namens "Jüdische Gemeinschaft".
Provokanter Stern
Angesichts der Härte dieser Konflikte ging die Vereinsführung von Ajax zunehmend auf Distanz zu den Fans und ihren Symbolen. "Ajax ist kein jüdischer Klub. Diese Fans sind so Juden wie ich Chinese bin" sagte Ex-Ajax-Präsident Michael van Praag. Zwar hatte er damit recht, er übersah jedoch, dass es den Fans gar nicht darum geht, ob man ihnen die jüdische Identität auch wirklich abnimmt.

Verlag Die Werkstatt
"Wir haben keine Beziehungen zu Juden oder irgendwelche Gefühle bezüglich Israel. Wir wollen mit diesem Symbol ein wenig zu
provozieren", sagt ein F-Side-Mitglied in David Winners Buch "Brilliant Orange","Ajax ist einer der meistgehassten Klubs in Holland. Und wenn du den Stern trägst, drehen die Leute durch. Bei uns sind Surinamesen, Chinesen, sogar eine Hand voll Nordafrikaner. Aber keiner von uns ist Jude."
Viele Amsterdamer Juden stehen diesem Aktionismus ablehnend gegenüber. Ajax-Legende Bennie Muller, der im Holocaust viele Familienmitglieder verlor, ebenfalls in Winners Buch: "Wenn ich im Stadion sitze und diese verrückten Leute "Wir sind Superjuden" singen höre, empfinde ich das als so schrecklich, dass ich nach Hause gehe. Ältere Menschen wissen, was im Krieg geschah, aber diese Fans wissen es nicht." Es gibt jedoch auch Stimmen, die dem Adoptieren der jüdischen Kultur positive Seiten abgewinnen können. So schreibt Dietrich Schulze-Marmeling in "Davidstern und Lederball", dass diese Ausprägung von "Prosemitismus" nur mit der Geschichte der Juden in Amsterdam erklärbar und ein Ausdruck von Respekt, Assimilation und Integration sei.
Atemschutzmasken als Kippas
Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich "verkleiden" sich Fußballfans in London ebenfalls als Juden. Ähnlich der Situation im Osten Amsterdams ist auch das klassische Einzugsgebiet von Tottenham Hotspur im Norden von London ein stark jüdisch geprägtes Gebiet. 75 Prozent der knapp 270.000 Juden Großbritanniens leben hier, was Tottenham in Verbindung mit einigen jüdischen Spielern und Funktionären schon früh den Ruf des "Judenklubs" eintrug, obwohl der Lokalrivale Arsenal in der Community zumindest ebenso beliebt war. Niederschlag fand dieses Klischee auch in der legendären BBC-Sitcom "Till Death Us Do Part" ("Bis dass der Tod uns scheidet"), deren Hauptdarsteller Alf Garnett – ein notorisch rassistischer West-Ham-Fan – regelmäßig über die "Yids" von Tottenham lästerte.
Die Selbstbezeichnung der Spurs-Fans als "Yids" oder "Yiddos" – beides im Englischen eigentlich abwertende Slangbegriffe für Jude – erlebte in den späten 70er Jahren ihren Durchbruch. Wie in Amsterdam ging auch diese Entwicklung mit der Hooligankultur und dem massiven Auftreten von Rassismus und Gewalt in den Stadien einher. Am 3. April 1976 stürmten Tottenham-Fans nach antisemitischen Gesängen von Arsenal-Fans die Nordtribüne des Highbury-Stadions und skandierten dort "Yiddos took the North Bank".
Der neue Kampfname kam gut an, und das Phänomen fand schnell weitere Verbreitung: Spurs-Anhänger trugen fortan Atemschutzmasken als Kippas und streiften Shirts mit dem Aufdruck "Yid-4-Life" über, die man an Spieltagen an der White Hart Lane auch heute noch
kaufen kann. Jüdische Fans waren kaum darunter. Immer radikaler werdende Anfeindungen der gegnerischen Fans, die auch vor Holocaust-Anspielungen nicht Halt machten, führten zu einer noch stärkeren Manifestation der "jüdischen" Fankultur unter den Tottenham-Fans, mit der sich auch Besucher der Haupttribüne identifizierten.
Fremder Zusammenhalt
John Efron, Historiker an der University of California in Berkeley, hat diese Ausprägungen intensiv studiert. Die nichtjüdische Erfindung der "Yiddo-Kultur" zeigt laut Efron, "dass die Fans selbst die übertriebene und unwahre Auffassung akzeptieren, die Spurs seien ein jüdischer Klub." Dadurch, dass sie sich mit einer fremden Identität schmücken, werde ihr Zusammenhalt gestärkt. "Das Gefühl, einer Randgruppe anzugehören, verleiht ihrer Unterstützung für Tottenham eine tiefere Bedeutung", schreibt Efron.
Diese Umkehrung von Beleidigungen ist auch in anderen Bereichen zu beobachten, etwa in der Aneignung des ursprünglich ebenfalls abschätzigen "queer"-Begriffs bei Schwulen und Lesben oder in der Bezeichnung "Nigga" im HipHop. Dem Fußball dürfte dennoch eine Sonderrolle zufallen, wie folgende Anekdote nahelegt: Als Manchester-City-Fans die Anhänger von Tottenham mit dem Chant "Wir haben eine Vorhaut und ihr nicht!" provozieren wollten, ließ eine Gruppe jüdischer Spurs-Fans die Hosen herunter und zeigte den "Citizens" ihre beschnittenen Glieder. Gelächter und Applaus auf beiden Seiten – von einem Moment auf den anderen waren alle wieder lustige Briten.