Erstellt am: 3. 3. 2009 - 11:37 Uhr
Nordlichter in Transformation
Eine unfrisierte Natur auf der einen Seite, die barocke Stadt auf der anderen Seite, das nördliche Licht und die Faszination einer Transformationsgesellschaft, die in sehr kurzer Zeit sehr viel bewältigen musste. Mit allen Wunden. Und dass Vilnius von einer sowjetischen Provinzstadt zu einer blühenden europäischen Stadt geworden ist, auch das begeistert Cornelius Hell.
Er ist als junger Germanist Mitte der 1980er Jahre nach Vilnius gezogen und war dort einer der ersten Ausländer, die dezidiert nicht russisch, sondern litauisch lernen wollten.
Mittlerweile ist er Übersetzer und Herausgeber litauischer Literatur. Cornelius Hell hat die Reihe Linz liest Vilnius kuratiert, die heute und übermorgen von der eingangs genannten Zerrissenheit, Vielfalt, Schönheit erzählen wird. Die Veranstaltung, die im Linzer Stifterhaus stattfindet, ist eine der wenigen Brücken, die die beiden europäischen Kulturhauptstädte zueinander schlagen.
Arunas Baltenas / Linz09
Zu Gast in Linz
Sie wird aus Panik emigrieren, denn der gut verkäufliche Roman, für den sie bereits Geld bekommen hat, den wird sie leider nicht schreiben können, so Giedra Radivilaviciute. Es wird nicht am schwer aussprechbaren Namen liegen, dass noch kein Werk der 1960 geborenen Autorin auf Deutsch erschienen ist. Vielleicht eher an diesem ungeschriebenen Roman, über den sie im Essay "Gezwungen, einen Text zu schreiben" grübelt. Mit dem Geld, das sie für den Roman bekommen hat, hat sie ein Parfum gekauft, ihre Tochter verbannt sie aus dem gemeinsamen Bett, das sie fortan mit einem Mann teilt, dem 1997 gestorbenen tschechischen Autor Bohumil Hrabal.
Giedra Radivilaviciute ist bei Linz liest Vilnius zu Gast. Während sie überlegt, dass eine britische Katze in Litauen früher nur die Hälfte gekostet hat, setzt sie sich auf einer zweiten Ebene mit globalen literarischen Themen auseinander: Etwa dem Druck, für einen bestimmten Buchmarkt zu produzieren, was den kreativen Fluss auf der Stelle trockenlegt.
Linz09
Teil von Linz 09
Am Beginn des 20. Jahrhunderts war etwa die Hälfte der Einwohner von Vilnius jüdisch. 1920 annektierte Polen das Land, nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde Litauen 1939 Sowjetrepublik. Dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht fiel bis 1943 fast die gesamte jüdische Bevölkerung zum Opfer. Dann übernahmen die Sowjets die Herrschaft. Der wichtigste litauische Dichter – Thomas Venclova – wurde zwangsausgebürgert. Er lebt und lehrt in den USA und schreibt auf Russisch, Polnisch und Litauisch.
Ich weiß nur das eine: das Böse stirbt nie,
Nur die Blindheit, sie lässt sich verscheuchen.
Und dass Verse mehr wert sind, als jeder Traum.
dichtet Thomas Venclova. Die Lyrik hat in Litauen eine große Tradition, was auch daran liegt, dass sie in der Sowjetzeit als Möglichkeit genutzt wurde, sich politisch zu äußern ohne der Zensur zum Opfer zu fallen.
Mariusz Kubik / www.mariuszkubik.pl/
Heute befassen sich litauische Autorinnen und Autoren vor allem mit dem Erbe der Sowjetzeit. Wobei Erbe viel älter klingt als es ist: Seit 20 Jahren ist Litauen nicht mehr kommunistisch, seit fünf Jahren in der EU. Die mittlere Schriftstellergeneration kennt also Veränderung und arbeitet sich an ihren Merkmalen ab.
Sigitas Parulskis kommt ebenfalls nach Linz, sein erster Roman "Drei Sekunden Himmel" ist gerade auf Deutsch erschienen. Bei Männern, die in den 1960er Jahren geboren sind, sagt Cornelius Hell, ist die wichtigste Generationenscheide, ob man noch in der Sowjetarmee gedient hat oder nicht. Sigitas Parulskis hat in der Sowjetarmee gedient und verarbeitet seine Erfahrungen als Fallschirmspringer in der DDR in seinem Roman.
Für die Veranstaltung Linz liest Vilnius und das Sonderheft der Rampe "Litauen lesen" hat Cornelius Hell vor allem Texte ausgewählt, die seit 2002 - als Litauen Gastland bei der Frankfurter Buchmesse war - entstanden sind. Eine Ausnahme stellt das literarische Werk einer litauischen Berühmtheit dar, die bei uns nicht als Autor bekannt ist: Jonas Mekas, Begründer der Fluxus-Bewegung und so genannter Gottvater des amerikanischen Avantgardekinos. Cornelius Hell hat die "Nervösen Tagebücher" von Jonas Mekas aus den Jahren 1944 bis '54 für die Rampe übersetzt.