Erstellt am: 22. 2. 2009 - 17:25 Uhr
Mein Freund Harvey
Noch nie hat ein simples Ladenschild eine so schöne und aufgeladene Bedeutung gehabt wie in Gus van Sants "Milk". "Yes, we're open" steht da auf einem roten Schild in der Auslage von "Castro Camera" und davor sitzen schmusend Harvey Milk und Scott Smith.
"I think you need a new scene", hatte Scott Harvey vorgeschlagen und ihm Geburtstagskuchen ins Gesicht geklatscht und dann sind sie losgefahren - nicht ohne, dass sich Harvey noch einen Spitzen-Vollbart hat stehen lassen, weg aus New York nach San Francisco. Doch auch hier, der einst als liberales Mekka geltenden Stadt, verbreiten konservative Kirchenorganisationen und ein homophober Polizei-Apparat ein Klima der Einschüchterung, Hetze und Bedrohung.
In dieser Atmosphäre einer lebendigen Community, die täglich mit Anfeindungen, Unterdrückung und Gewalt leben musste, wurde Harvey Millk zum politischen Aktivisten und nach drei Anläufen schließlich zum Stadtrat, zum ersten offen homosexuellen Politiker der USA. Am 27. November 1978 wurden Harvey Milk und Bürgermeister George Moscone vom ehemaligen Stadtrat Dan White erschossen.
Constantin
Gus van Sants "Milk" beschränkt sich auf die Jahre 1972 bis 1978, den Rahmen bildet - wie schon in der oscargekrönten Dokumentation "The Times of Harvey Milk" -, eine Art testamentarische Tonbandaufnahme Harvey Milks. Van Sant mischt Szenen vom Machen dieser Tonbandaufnahme, in der ein leicht abgekämpfter Harvey Milk am Küchentisch sitzt, mit der energetischen Zeit seines Aktivismus und Archivaufnahmen. Nie erstarrt "Milk" zum hochpolierten Biopic, es kommt zu keiner Anektodisierung von Zeitgeschichte, statt ein starres Denkmal zu setzen, bringt van Sant die Dynamik einer politischen Bewegung auf die Leinwand und zeichnet das Porträt eines außergewöhnlichen Mannes, ohne ihn heroischem Pathos preiszugeben. In Szenen, in denen der charismatische Milk seine Reden hält, setzt kein tränendrüsender Geigenrausch ein und zeigt ihn von leicht schräg unten, stattdessen ist die Kamera stets in der Menge seiner Zuhörer.
Einige Kritiker waren enttäuscht von van Sants konventioneller Erzählweise, die aus den Biopic-Spielregeln jetzt nicht ausbricht, doch ist der Film unterwandert von deutlichen Spuren einer Independent-Produktion und deren Leichtfüßigkeit, nie wird die mit Bedeutung aufgeladene Schwere breit, die sonst Biopic-Vehikel gerne mit sich ziehen. Auch verschont uns van Sant mit aufgebauschten Kindheitsanekdoten oder zu Schlüsselmomenten aufgerüscherlten Szenen aus Milks Leben. "Milk" ist auch deswegen so eindrucksvoll, weil es ein Film ist, der trotz politischer Anliegen Freude und Sinnlichkeit nicht negiert. Das Politische im Privaten und umgekehrt darstellen zu wollen, ist nichts Neues, nur, hier gelingt es auch. Und mehr noch.
Penn geht auf und unter
Sean Penn, Hollywoods Eigenbrötler und Einzelgänger, der einen ganzen Schrank voller Rollen als kauziger, rauer Sturschädel hat, eröffnet mit seiner Leistung in "Milk" eine neue Welt im Penn'schen Spektrum. Zwar sind da noch die Stirnfalten, die Penn immer so akkurat einzusetzen weiß und doch geht Penn während er in der Rolle aufgeht, in ihr unter. Penn verschwindet, Milk bleibt über. Erstaunlich präzise, was Sprache und Mimik angeht, ohne zur Karikatur oder zum verzweifelten Imitator zu werden, liefert er eine unfassbar beeindruckende Leistung ab, die - ginge es nach mir - mit dem Oscar belohnt werden muss. Rourke hin oder her. Doch nicht nur Penn, das ganze Cast gleicht einem ausgefuchsten Coup: James Franco, der noch reicher wäre, wenn er für jeden James-Dean-Vergleich einen Schilling bekommen würde und der bis jetzt einen festen Wohnsitz in Blockbusteranien hatte ("Spider-Man", "Pineapple Express"), schlüpft in die Lockenpracht und den Schnauzer von Milks Freund Scott Smith und das mit Überschwang und Authentizität. Gus van Sants Hang zum Understatement, lässt in "Milk" jeden Schauspieler aufblühen. Emile Hirsch gibt - mit Riesennerdbrille fast unerkenbar - den Aktivisten und engen Mitarbeiter Milks, Cleve Jones.
Constantin
White gegen Milk
Neben Penn ist auch Josh Brolin, der Milks Mörder Dan White spielt, ebenfalls mit einer Oscar-Nominierung bedacht worden; Brolin ist auch so einer, der hinter seiner Rolle verschwindet, da ist nichts mehr vom wortkargen Lleewelyn Moss aus "No Country for old men" und schon gar nichts mehr vom überzeichneten Bush in "W." Beeindruckend stattet er in relativ wenigen Szenen seine Figur mit einer Zerissenheit aus und - ohne ihn zu dämonisieren - der beunruhigenden Ausstrahlung, dass da irgendwann was explodieren wird.
Weg vom Klischee
Nicht, dass man bei Gus van Sant was anderes erwartet hätte, trotzalledem führt einem "Milk" vor Augen, wie es aussieht, wenn die Charakteristika einer Filmfigur nicht ausschließlich an ihrer Homosexualität festgemacht werden. Zwar sind die Zeiten des Hays Code vorbei, in denen jegliche Referenz auf Homosexualität verboten war und man sie in manierierter Sprechweise, Verhalten und Kleidung codierte, ohne sie je zu benennen, und doch hält sich vor allem das Genre Komödie immer noch ziemlich genau an diese codierte Darstellung. (Interessanterweise spielt Lucas Grabeel, der in allen drei High School Musical Vehikeln den als schwul codierten Ryan Evans spielt, in "Milk" den Fotografen Dany Nicoletta).
Constantin
Ein homosexueller Charakter taucht meist in einem Film nur aus zwei Gründen auf: Um in der Komödie für Lacher zu sorgen und um im Drama an seiner Homosexualität bzw. der Intoleranz der Gesellschaft zu leiden. Zwar schreiben sich letztere Filme auf ihre Fahnen auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, stigmatisieren aber letztlich nur. Es fehlen die Rollen, in denen eine Figur einfach homosexuell ist, ohne daran ihre gesamte Motivation und Verhaltensweise festzumachen. Natürlich ist Harvey Milk schwul, aber er ist auch dreißigtausend andere Sachen.
Neue Assoziationen
Gesellschaftliche Umwälzungen oder gar Aktivismus-Ausbrüche wird ein Film letztendlich nie auslösen, was Film aber kann, ist neue Bilder und Assoziationen zu generieren, deren Macht nicht unterschätzt werden darf. (Wenn ich euch jetzt bitte, an "Gandhi" zu denken, haben sicher nicht wenige Ben Kingsley vor Augen, die Google-Bildersuche tut sich schon schwer zwischen Ian Curtis und Sam Riley, der Ian Curtis in "Control" spielte, zu unterscheiden, zahllose Internet-User werden es ihr gleichtun. Siehe auch die Diskussionen um "The Reader" und "Slumdog Millionaire"). Die Schwulenbewegung hatte bis jetzt filmisch ohnehin noch nicht viel Zuwendung bekommen, van Sants "Milk" stattet sie mit den bestmöglichen Bildern aus, weil er einen klischeefreien Film mit klischeefreien Figuren schafft, die nicht zu Archetypen des Erzählkinos erstarren.
Constantin
Eine ähnliche Enttäuschung, wie der Nachbar im liberaler eingeschätzten Viertel, der sich die Hände abwischt, nachdem er Milk und Scott die Hände geschüttelt hat, ist wohl auch das Ergebnis der "Proposition 8" Abstimmung im immer noch als liberal geltenden Kalifornien gewesen: 51 Prozent haben in Kalifornien für den Zusatz abgestimmt, der die gleichgeschlechtliche Ehe verbietet. Soviel zur u.a. aus dem dort angesiedelten Showbusiness abgeleiteten liberalen Einstellung des Bundesstaates. Zwar scheinen die Zeiten endlos lange her, als Rock Hudson und Montgomery Clift versuchten mittels Therapie heterosexuell zu werden, doch angesichts der Lobpreisung der Idee, den sich immer auch ein bisschen als Macho gebenden Penn als schwulen Aktivisten zu besetzen, fällt auch auf, dass einem nicht einmal genug homosexuelle Schauspieler einfallen, um "Milk" zu besetzen. Weil recht weit kommen wir mit Neil Patrick Harris nicht.