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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

13. 2. 2009 - 17:24

Relative Giganten

Die Berlinale schminkt sich ab: mit Renée Zellweger, Kevin Bacon und Demi Moore.

Und alles wird gut. Gerade habe ich mir meine erste und vermutlich auch letzte Berliner Currywurst für diesen Februar in den Mund geschoben und der leicht schale Geschmack, den die Mischung aus Ketchup, gelbem Pulver und Bratwurst in meinem Mundraum hinterlässt, der erinnert mich auch an die gerade jetzt im Moment ausklingenden Filmfestspiele.

Vieles ist schon abgereist hier, das Bild am Potsdamer Platz und vor dem Palast erinnert ein wenig an einen halb hinter sich gebrachten Umzug, alles ist bestimmt von schnellen Bewegungen, allerdings nicht mehr von einem Film zum anderen, sondern eher vom Hotel hin zum Flughafen. Überall klackern die Rollen der Trolleys.

Die Currywurst hat auch hohes Ausnüchterungspotenzial, da spreche ich aus Erfahrung: Die Schärfe hab' ich heute morgen gebraucht, nachdem ich gestern Nacht auf der Abschlussfeier der Forum-Sektion, traditionell eine der lässigsten Berlinale-Parties, mir selbst die schlechten Filme aus dem Kopf getrunken und mich mit anderen der guten Filme erinnert habe, währenddessen ich immerzu - irgendwo zwischen Nervosität und Ekstase - auf die Frau neben mir geblickt habe, die hier heuer in Berlin auch die Vorsitzende der offiziellen Wettbewerbsjury inne hat:

Tilda Swinton war, wie könnte es anders sein, auch eine Erscheinung in Porzellan und Feuerrot, der schlaksige Körper im cremefarbenen Kleid. Sie muss mit ihren Jurykollegen - darunter auch der von seiner Krebserkrankung gezeichnete Christoph Schlingensief und, hoho, Henning Mankell - morgen Entscheidungen für und damit auch automatisch gegen die selektierten Arbeiten treffen.

Ich und Alle Anderen

Ein junger Mann steht mit einer Platzwunde am Kopf im Grün

Berlinale

Everything is NOT allright in paradise: Chris trägt schon erste Platzwunden davon

Ich persönlich, der ich einen großen Teil der Wettbewerbsfilme gesehen habe, halte meine Daumen für einen ganz wundersamen deutschen Film, vielleicht den besten deutschen Film seit Jahren. Mit Alle Anderen bestätigt sich Maren Ade nach ihrem großen Debüt mit "Wald vor lauter Bäumen" (2004) als vielleicht tauglichste Regisseurin des Landes: Sie erzählt eine oberflächlich sehr kleine Geschichte, die von einem Jungarchitekten und seiner Freundin, die für ein großes Plattenlabel arbeitet und ihrem gemeinsamen Urlaub auf Sardinien.

Da lassen dann die Zwangsjacken und Verhaltensanweisungen der Leistungsgesellschaft für ein paar Wochen aus, sie spielen unter der Sommersonne ihr Leben: Gitti (großartig: Birgit Minichmayr) und Chris (Lars Eidinger) wirken trotz der einen oder anderen kleinen Beziehungskatastrophe glücklich, Ades selbst verfasstes Drehbuch fängt die Kleinigkeiten des Zusammenlebens auf außergewöhnlich unprätentiöse Weise ein.

Eine junge Frau und ein junger Mann liegen wenig bekleidet im Gras

Berlinale

Noch ist die Welt in Ordnung: Sommer mit Sonnenschein auf Sardinien. Aber da sind dann noch Alle anderen

Wenn sie sagt "Ich liebe dich" und er sie daraufhin küsst und sie sich eigentlich wünscht, er würde auch sagen "Ich liebe dich". Kleine Vulkane explodieren, aber der große Ausbruch steht erst noch bevor: Mit einem bekannten Paar, das die beiden auf Sardinien treffen, schiebt sich nämlich die Gesellschaft in den Urlaub - und Eden brennt.

Es beginnt der Kampf um den sozialen Aufstieg, der Kampf um den Statuserhalt. Es setzt Spitzen und Beleidigungen, keiner will sich die Blöße geben. "Alle Anderen" wird zu einem grausamen, weil ehrlichen Film: Wenn Chris sich vor den Anderen über die gesammelten Glasfiguren seiner Mutter lustig macht, um sich selbst Ansehen zu verschaffen, dann hat das nicht nur etwas mit gutem und schlechtem Geschmack, sondern vor allem mit Klassenverhältnissen zu tun.

Ich weine und bin glücklich

Maren Ades "Alle Anderen" war einer der ganz wenigen Lichtblicke im diesjährigen Wettbewerbsprogramm der Berlinale. Ein anderer hätte Happy Tears sein können, der neue Film von Mitchell Lichtenstein. Vor zwei Jahren habe ich hier in dieser Stadt bei diesem Festival sein Debüt "Teeth" gesehen, eine erstaunlich versierte, abgründig komische Groteske mit Horroreinschlag über das sexuelle Erwachen eines Mädchens mit Vagina Dentata.

"Happy Tears" hätte das Potenzial zu meinem Berlinale-Lieblingsfilm gehabt: Zum einen ,da das Festival mit seinen Straight from Sundance-Filmen ab und an schon ein glückliches Händchen bewiesen hat, so etwa mit "Thumbsucker" von vor einigen Jahren, zum anderen da Lichtenstein eine, sagen wir mal, grenzgeniale Besetzung zusammengetrommelt hat.

Berlinale

Zwei Schwestern bei der Vaterpflege: Parker Posey und Demi Moore werden noch einige Happy Tears vergießen müssen

Parker Posey und Demi Moore spielen zwei grundverschiedene Schwestern, die sich aufgrund der Demenzerkrankung ihres Vaters (ein wie immer herausragender Rip Torn) im Elternhaus treffen, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Leider gelingt Lichtenstein aber nicht, die vielen verschiedenen Ansatzpunkte und ästhetischen Linien seines Films, der konstant zwischen Realität und Traumfantasien und Drogenvisionen hin und her hüpft, in einer überzeugenden Geschichte zu grundieren.
So muss "Happy Tears" trotz haufenweise umwerfender Momente - etwa Ellen Barkins Nebenrolle als psychisch gestörte Frau mit braunen Zähnen, die glaubt, eine Krankenschwester zu sein und eine Affäre mit dem bettlägerigen Rip Torn hat - vor allem ein Film der guten Ideen bleiben. Schade.

Mit Rückenwind in die Zukunft

Eine positive Überraschung hat es in den letzten Festivaltagen allerdings auch noch gegeben: My One And Only ist die Geschichte einer Glamour-Lady aus den Fünfziger-Jahren, die von der Vielweiberei ihres Ehemanns (Kevin Bacon) genug hat und sich mit den beiden pubertierenden Söhnen in einem Cadillac aufmacht Richtung neuer Zukunft.

Filmstill "My One And only"

Herrick Entertainment / Merv Griffin / Raygun Productions

"My One And Only"

Auf dem Weg dorthin findet Renée Zellweger in dieser sehenswerten, wenn auch nicht wirklich wettbewerbsfähigen Komödie nicht nur allerhand verrückte Verehrer, sondern vor allem zu sich selbst. Regisseur Richard Loncraine ("Wimbledon") schafft mit diesem warmen Film den glaubhaften Umstieg einer oberen Mittelklasse-Frau in die Arbeiterklasse, und erzählt auch noch aus der Jugendzeit des bekannten US-amerikanischen Schauspielers George Hamilton.

Die Bären sind vergeben. Hier geht es direkt zu den Preisträgern.

Schwarzfilm

Alle Feste sind - jedenfalls für mich - gefeiert, alle Schlachten geschlagen: Morgen am späten Nachmittag steige ich in meinen Flieger nach Wien, zurück in die Normalität. Ich freue mich, trotz aller Rückschläge jedenfalls bereits auf die nächste Berlinale und auch darauf, das Festival an dieser Stelle wieder mit meinen Einschätzungen und Momentaufnahmen begleiten zu dürfen.

Wir lesen uns wieder während der Diagonale (17. bis 22. März)!