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Rafael Reisenhofer Osnabrück

Lebt und studiert in Osnabrück

26. 2. 2009 - 08:00

Tampere!

Warum es auch eine gute Idee sein kann, in einer fremden Stadt allein und ohne Plan durch die Nacht zu streifen und Tampere - mit kleineren Abstrichen - eigentlich Linz ist.

Die Statue eines Mannes. Sie steht auf einer Brücke im Zentrum Tamperes.

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Was genau der starke Mann im Zentrum von Tampere hier in der Hand hält, erschließt sich auch bei näherer Betrachtung nicht zwingend. In jedem Fall aber...

Es ist Samstag und das Nachtleben gerade dabei, sich zu entwickeln. Ich stehe vielschichtig verpackt im Zentrum von Tampere und vor allen Dingen mangelt es mir an Orientierung. Wenn man nun in einer fremden Stadt lange genug ratlos vor einem öffentlichen Plan derselben verweilt und sich somit unweigerlich als hilfsbedürftiger Tourist outet, erregt man oft die Aufmerksamkeit jener, die es gewohnt sind, im täglichen Umgang nicht sonderlich ernst genommen zu werden. Insofern bin ich wenig überrascht, als nach fünf Minuten der vergeblichen Suche des "You are here" - Punktes ein Obdachloser auftaucht und mir neben einer zittrigen Hand ebenso Hilfe und Gesellschaft anbietet.

Kurz darauf sitzen wir auf meine Kosten in einer äußerst anspruchslosen Interpretation eines Cafes und mein Gegenüber bringt, begleitet von ausladender Gestik und reichlich Zungenschlag, in einer überraschend verständlichen Mischung aus brüchigem Deutsch und Englisch Auszüge aus seiner Lebensgeschichte. An diesem Punkt holt mich in gewisser Weise meine Herkunft ein. Seine Mutter, so erzählt er, stamme aus Russland und hätte im Krieg sowie als Flüchtling in Finnland großes Leid erlebt. Denn die Österreicher - "that's the point" - das wären die Nazis gewesen. Mein Gesprächspartner verliert sich in Sentimentalität, Tränen kommen ins Spiel und der Griff zur Zigarette verschafft uns beiden eine Pause. Ich nutze die Gelegenheit, mich elegant aus der Affäre zu ziehen, komme aber letztlich nicht umhin, eine Einladung zur Übernachtung auszuschlagen. Als ich wieder auf die Straße trete ruft mir der Obdachlose noch einmal nach: "Lass die Sau raus!".

Tampere. Es ist bewölkt und verschneit. Durch das Bild zieht sich ein Fluss, im Hintergrund ein Schornstein.

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Tampere hat aktuell etwas mehr als 200.000 Einwohner. Der hier abgebildete Kanal teilt die Stadt in zwei Hälften und schneidet die Hämeenkatu. Jene Straße im Zentrum Tamperes, entlang derer sich der Großteil des innerstädtischen Lebens abspielt. Wer will kann auf Google Maps den Vergleich mit der Linzer Landstraße (inklusive Hauptplatz) anstellen, gefühlsmäßig geht sich das aber ziemlich genau aus. Man beachte auch die allgegenwärtigen und doch nicht unästhetischen Schornsteine.
Die Statue eines stattlichen Mannes. Die Rechte Hand hält ein Schwert und ist feierlich erhoben.

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...ist er in guter Gesellschaft.

Ein nicht zu verachtender Ratschlag. Trennt mich doch von meinem für Sonntag gebuchten Flug nach Frankfurt-Hahn noch eine ganze Nacht. Die Gesellschaft, mit der ich ein paar Stunden zuvor Museen und Cafes erkundete, befindet sich im Zug auf halbem Weg zurück nach Jyväskylä und von den örtlichen Herbergen weiß ich gerade einmal, dass es sie gibt, und sie angeblich unvertretbar überteuert wären. Ein Umstand, der mich nicht weiter kümmert. Schließlich sind gerade finnische Nächte nicht allein zum Schlafen da.

Die Suche nach einer geeigneten Lokalität gestaltet sich langwieriger, als erwartet. Zwar befinden sich entlang der vom Hauptbahnhof ins Stadtzentrum führenden Hämeenkatu vielzählige Pubs, Bars und Kneipen, aber ein Großteil davon grenzt sich von der Außenwelt nicht nur mit grimmigen Türstehern sondern auch durch gesalzene Eintrittspreise ab. Ich versuche, anhand der auf den verschneiten Gehwegen umherstreunenden Nachtschwärmer auf Publikum und Reiz ihrer Destinationen zu schließen, gebe dieses Vorhaben aber wieder auf, nachdem mich drei an sich unterhaltsam wirkende Burschen nicht zu einem charmanten Beisl sondern vor ein protzig glitzerndes Nobelhotel geführt haben. Auf Anraten einer schon heimwärts wankenden jungen Frau verschlägt es mich schlussendlich in die "Koti Baari", wo mir der deutschstämmige Türsteher zwar ein Gefühl von Vertrautheit vermittelt, mich aber vor allem mit der Frage verblüfft, ob ich aus dem französisch- oder deutschsprachigen Teil Österreichs käme.

Das ehemalige Hauptgebäude des Finlayson-Konzerns.

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Über lange Strecken ihrer Geschichte war die Stadt im Allgemeinen abhängig von der Textilbranche und im Speziellen von einem dominierenden Konzern. Finlayson. Die Analogie zur VOEST hinkt in diesem Fall allerdings ein bisschen, da sich die finnische Textilindustrie spätetestens seit Beginn der 80er Jahre der aus Asien emporwachsenden Billigkonkurrenz nicht mehr erwehren konnte und radikal an Bedeutung einbüßte. Auf weiten Teilen des vormaligen Finlayson Geländes befinden sich heute Unternehmen aus der High-Tech Branche. Nokia produzierte übrigens lange Zeit vor allem Gummistiefel und Radmäntel.
Eine schneebedeckte Straße, die an schneefreie Pflastersteine grenzt.

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Der Energiekrise zum Trotz gibt es in Finnland...

Im ersten Stock der Bar mache ich mich auf einer gemütlich gepolsterten Sitzecke breit und nippe an einem vergleichsweise leistbaren - die Alkoholsteuer wurde zwar anlässlich des EU-Beitritts Estlands deutlich gesenkt, ist aber immer noch beträchtlich - Cider. Eine Gruppe Einheimischer gesellt sich zu mir, und während ich bald allen Klischees vom kühl distanzierten Finnen abschwören muss, drängt sich ein anderer Verdacht zusehends auf. Finnland, das ist Heavy Metal. Blonde Seitenscheitel mögen Formel-1-Weltmeister werden, im finnischen Nachtleben regiert - zumindest äußerlich - das Dunkle, Wilde.
Schon einige Stunden zuvor war die Wartehalle des Bahnhofs - offenbar hatte man andernorts einschlägige Festivitäten anberaumt - überfüllt gewesen, von schwarzem Leder, gebleichten Gesichtern und mittelalterlich anmutendem Kriegsspielzeug aus garantiert gefahrlosem Plastik. Und auch meine neu gewonnen nordischen Freunde passen stilistisch perfekt in ein Land, welches vor ein paar Jahren noch grotesk maskierte Gitarrenwürger zum Eurovisions Songcontest entsandte und - gewann.

Konert der Band "Deathlike Silence". Im Vordergrund das Publikum.

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Die Band heißt "Deathlike Silence" und stellt sich mit langen Haaren, lautem Geschrei, hinter dem Kopf gespielten Gitarrensoli und einer von markerschütternd gehämmerten Akkorden unterlegten Coverversion von "Moonlight Shadow" ganz in den Dienst des Klischees. Chapeau!
Eine menschen- und schneeleere Einkaufsstraße.

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...beheizte Einkaufsstraßen!

Wir ziehen zusammen weiter, und ich bin ebenso überrascht wie erfreut, mit welcher Selbstverständlichkeit man sich nach einem gemeinsamen Getränk und ein bisschen interkulturellem Smalltalk einer an sich völlig fremden Gruppe zugehörig fühlen kann. Jerita, ein wenig älter als ich, weit weg von jedem nordischen Ideal einer hochgeschossenen, blond-blauäugigen Göttin eine gewinnende Erscheinung, erzählt mir etwas wehmütig die Legende des ehemals besten Clubs der Stadt. Einem Ort, der das vergnügungswillige Ausgehvolk allabendlich mit Live Bands, billigem Bier und familiärer Atmosphäre verwöhnte, letztlich aber dem wirtschaftlichen Druck eines finnischen Disco-Magnaten nachgeben musste, sozusagen feindlich übernommen und in eine hippe Location mit grimmigem Türsteher und Eintritt verwandelt wurde.

Mangels Alternativen landen wir also bald dort, wo interessante Nächte immer einen adäquat exzessiven Ausklang finden, in einer gehörig versauten Studentenbude. Am Küchtentisch stapeln sich schichtenweise Zeitungspapier, Essensreste und Pizzakartons, im Wohnzimmer jedoch Gitarren und Verstärker aller Art. Der musikalische Freakout scheitert zwar an vorhandenen Nachbarn und in letzter Konsequenz unserer Vernunft, aber auch das gepflegte gemeinschaftliche Besäufnis in relativer Ruhe hat seinen Reiz. Ich nehme instinktiv ein ganzes Sofa in Beschlag, und bestaune das erstaunlich flüssige Kommen und Gehen.

Ein etwas missglücktest Bild. Unscharf. Im Vordergrund drei Gitarren und ein Verstärker, im Hintergrund Leute auf Sofas und Matratzenlager.

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Der Morgen danach. Mit Flüssigkeit vor der Linse.

Im Laufe der Nacht erhalte ich noch wohlmeinende Studientipps eines über neuronale Netze - ein Fachgebiet, welches bei gnädigem Schicksal auch einmal das meine sein wird - promovierten Physikers, Bruderschaftsbekundungen eines verhinderten Rockstars und den nicht befolgten Rat, dass ich mir mit meinem Akzent bei den anwesenden Mädchen ohnehin alles erlauben dürfte. Irgendwann verstreut sich die anwesende Gesellschaft auf allen verfügbaren Betten und Matratzen, oder in den anbrechenden Morgen. Ich nehme mit Genugtuung zur Kenntnis, mein Sofa erfolgreich vertreidigt und sogar eine kleine Decke aufgetrieben zu haben. Der nächste Tag verläuft ausgeruhter, als erwartet.

Ich weiß, wir stecken alle in der Krise. Aber wenn es möglich ist, in einer fremden Stadt derart offen auf- und mitgenommen zu werden, unabhängig jeden aufgesetzten Samaritertums, läuft irgendwas auf dieser Welt auch verdammt richtig.