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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

6. 2. 2009 - 16:46

Ein Schlag, ein Kuss, und Schluss

Die Berlinale eröffnet mit einem Thriller von Tom Tykwer und startet in den Wettbewerb.

Das Plakat der Berlinale 2009

Berlinale

Potenzial hätte er ja schon gehabt, der neue Film von Tom Tykwer. Lange galt der deutsche Regisseur als einer der innovativsten und formal experimentierfreudigsten Köpfe des europäischen Kinos: nach Ansicht seines neuen Thrillers The International, der gestern Abend die diesjährige Berlinale eröffnen durfte, müssen solch hochtrabende Zuschreibungen allerdings revidiert werden.

Clive Owen hetzt darin als Interpol-Agent Louis Salinger den Drahtziehern von dubiosen Bankgeschäften hinterher: Gemeinsam mit einer US-amerikanischen Staatsanwältin (fehl besetzt: Naomi Watts) reist er um den Globus, freilich mit hehrem Ansinnen, aber schon auch um den Mord an einem seiner Kollegen zu rächen. Man merkt recht schnell, was das eigentliche Rückgrat von "The International" sein sollte: nämlich die Graubereiche, in denen sich persönliche Konflikte, also Gefühlswelten und Triebe vermengen mit etwas so anonymen und entmenschlichtem wie dem internationalen Finanzwesen.

Ein Mann mit Waffe zielt.

Berlinale

Clive Owen als The International: Tom Tykwers Thriller gibt sich komplex.

Leider genügt sich der mäßig spannende, mit Fachbegriffen jonglierende Film allerdings darin, eine Schnitzeljagd von Hier nach Dort zu veranstalten. Die Spur führt Salinger zuerst nach Luxemburg in die gläsernen Hallen der Bank IBBC und in das Spinnennetz von Jonas Skarrson. Von dort aus geht die Reise nach Italien, irgendwann auch in die USA und findet ihr Ende auf den Dächern von Istanbul. Alles potenziell aufregende Schauplätze, die sich hervorragend eignen würden als Bühne für einen Spannungsfilm. Alleiniger Höhepunkt von "The International" bleibt allerdings eine famos inszenierte, fast zehnminütige Schießerei im New Yorker Guggenheim Museum.

Child Scare Tactics

Und auch Francois Ozon hält dem guten Ruf seiner bisherigen Regiearbeiten, obwohl ich persönlich ja bereits nach seiner spaßigen Familienzerlegung Sitcom vom Franzosen abgelassen habe, nicht stand. "Ricky" lautet der Titel seines Beziehungsfilms mit eindeutigem, wenngleich merkwürdig fantastischem Einschlag. Ich werde mich hier an dieser Stelle zurückhalten, den einen amüsanten Moment in Ricky zu verraten, da man sich ein Anschauen des Films ansonsten gleich ersparen könnte.

Vater, Mutter mit Baby am Arm und die kleine Tochter schauen ängstlich

Berlinale

Ozons neue Familie kurz vor ihrer großen Herausforderung

Das erste Drittel überbrückt Ozon noch recht gut damit, dass er das für ihn exotische Milieu einer Arbeiterklasse mit sozialrealistischem Gestus, also alltagsgerechter Ausleuchtung und Vermeidung exaltierter Drehbucheinfälle, zeigt; wenig überraschend kippt die Stimmung allmählich, Ozon plündert sowohl im Horrorgenre wie beim Fantasykitsch, lässt seine Geschichte einer Chemiefabriksarbeiterin, die ein, nun ja sagen wir mal, "ungewöhnliches" Kind bekommt, unbefriedigend auslaufen.

Read it to me! Give it to me!

Ebenfalls ausgelaufen ist Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser in Stephen Daldrys gleichnamiger Adaption. Tatsächlich bemüht sich der Regisseur um eine annähernde Wort-für-Wort-Umsetzung der unbequemen Liebesgeschichte zwischen einem Pubertierenden und einer Straßenbahnschaffnerin im Nachkriegs-Berlin. Der 15-jährige Michael (David Kross) entdeckt mit Hanna Schmitz (Kate Winslet) seinen Körper, seine Sexualität; Jahre später treffen die beiden wieder aufeinander, jedenfalls befinden sie sich am selben Ort. Dann steht Hanna als ehemalige KZ-Aufseherin vor Gericht, Michael muss den Prozess als Jus-Student aufmerksam verfolgen.

Filmstill aus "The Reader"

Berlinale

David Kross als der Vorleser, Kate Winslet als die Zuhörerin

Schlink stellt in seinem empfehlenswerten Roman eine komplexe Schuldfrage und kommt zu dem Schluss, dass es so etwas wie historische Wahrheit nicht geben kann, dass es nur eine persönliche Wahrheit gibt. "Der Vorleser" weiß vor allem in seinen Hauptrollen zu überzeugen: Kate Winslet schafft als Frau Schmitz den Balanceakt zwischen Leidenschaft und Gefühlskälte, ummantelt ihre Figur mit Unschuldigkeit. Und David Kross, Deutschlands Shooting-Star aus "Krabat" und "Knallhart" macht – auch splitternackt – eine gute Figur, zum einen als Jüngling, der bedingungslos liebt, zum anderen als junger Mann, der die Geheimnisse seiner Jugendliebe erfährt.

Aber Daldrys Inszenierung genügt sich darin, Schlinks Roman umzusetzen; er gräbt sich keinen eigenen Weg durch die Geschichte, muss schließlich die Zeitebenen komplex ineinander verschachteln und sein Drama mit konstanter Hintergrundmusik dramaturgisch kitten, damit es nicht in alle Einzelteile zerfällt.

Soldatenschicksal

Aber es gibt auch gute Nachrichten aus Berlin: der Wettbewerbsfilm der Dänin Annette K. Olesen Lille Soldat war, jedenfalls für mich, eine angenehme Überraschung. Das liegt vor allem an Trine Dyrholm (bekannt aus "Das Fest"), die ihre Rolle einer aus dem Irak heim gekehrten Soldatin physisch und psychisch so schlüssig und brüchig anlegt, dass es mich nicht wundern würde, sollte Dyrholm dafür den Schauspielerpreis hier in Berlin einheimsen.

Dyrholm zeigt in ihrer Figur Zärtlichkeit und Grausamkeit, lässt ihre Soldatin lieben, im nächsten Moment hassen, will sie in die Normalität zurückführen, aber immer wieder explodieren lassen. Ihr ungeschöntes, natürliches Gesicht mit den tiefen Furchen, ihr erfahrungsvoller, trauriger Blick, ihre unweibliche Körperhaltung, ihre strähnigen, blonden Haare: tatsächlich ist das eine der spannendsten Frauen, die ich seit langem im Kino sehen durfte.

Eine weiße Frau und eine schwarze Frau tanzen am Strand; im Hintergrund das Meer

Berlinale

Trine Dyrholm schließt als Little Soldier neue Freundschäften: der bisher stärkste Wettbewerbsfilm kommt aus Dänemark

Auch inszenatorisch punktet "Lille Soldat", obwohl Olesen dann und wann zu bemüht konstruiert, die Musik zu stark aufdrückt und die filigrane Charakterstudie melodramatisch übermalt. Sie erzählt von dieser Soldatin, deren Vater eine erfolgreiche Spedition leitet, im Nebenjob der Zuhälter einiger afrikanischer Prostituierter ist. Er engagiert seine Tochter als Fahrerin für eines der Mädchen und langsam schieben sich diese verschiedenen Frauenleben ineinander, finden sich in dergleichen Entwurzelung und dem Gefühl des Fremdseins wieder.

Eine Liebesexplosion

Der beste Film der Berlinale ist für mich bisher aber eindeutig Love Exposure des Japaners Sion Sono: ein vierstündiger, konstant wabernder, unverstohlen poppiger Koloss, dessen inhaltliches Labyrinth jetzt hier niederzuschreiben überhaupt keinen Sinn machen würde.

Nur so viel: es gibt einen Priestersohn, der, um bei seinem Vater beichten zu können, immer mehr Sünden begeht, vor allem jungen Mädchen mit komplizierten Apparaturen unter den Rock fotografiert; der zum Anführer eine Highschool-Bande wird, und nach einer verlorenen Wette verkleidet als Sasori - eine berühmte Rächerfigur aus japanischen Filmen - durch die Stadt ziehen muss; der dann seine "Maria", findet, die sich aber als Männerhasserin entpuppt, und sich nur in Sasori verlieben kann. Es gibt dann noch exzentrische Kampfkunsteinlagen, eine blutige Kastration, viel Japan-Poprock, Kurt Cobain-Poster, Blut & Beuschel-Orgien, Tränen aus Blut, eine Marienfigur, eine religiöse Sekte namens "Zero Church", einen Amoklauf, ein ganz großes Melodram.

Ein junger japanischer Mann hält eine Kamera in der Hand

Berlinale

Der Sünder Yu fotografiert japanischen Mädchen unter den Rock und ich auch sonst auf der Suche nach etwas Love Exposure

Wäre ich bei klarem Verstand, dann müsste ich bezweifeln, dass es ein anderer Film der diesjährigen Berlinale noch schaffen könnte, dieses Monument eines Popliebesfilm noch zu übertreffen. Da ich mir die Spannung und die Lust am Kino jedoch noch für die kommende Woche aufrecht erhalten will, gebe ich mich der Vorstellung hin, dass da draußen noch mehr Vision, noch mehr Genie sein könnte, als das, was ich in "Love Exposure" gesehen habe.