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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

15. 2. 2009 - 15:30

Exemplarisches Erörtern anhand der Wiener Linien

Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und wenn das geklärt ist: Nehmen wir die Straßenbahn? - Ein sehr ausschweifender Buchtipp.

Wie ist es eigentlich möglich, die Start- und Haltezeiten eines Verkehrsmittels zu ermitteln, das etwa im Unterschied zu Flugzeugen nicht in einem autonomen, eigens für das Vehikel geschaffenen, sondern in einer Wechselwirkung mit oder gar Abhängigkeit von einem anderen Transport-Kosmos, dem Straßennetz nämlich, betrieben wird?

Da die Straßenbahn höchstens in der Theorie mehrere Male in der exakt selben Zeit eine Wegstrecke absolvieren kann (ausschlaggebende Faktoren für die Fahrtdauer sind nicht nur Distanz und Ampelintervalle, sondern auch die Fahrgastfrequenz), ist von den Minutenangaben am Fahrplan doch recht wenig zu halten. Kein Hinweis, dass es sich bei den angeführten Werten nur um Solldaten oder Schätzungen handelt, säumt die vielerorts angebrachten Tabellen, einzig die Bemerkung "Fahrzeit in Minuten zur Hauptverkehrszeit". Abgesehen von der Tatsache, dass diese auch zu jenen mit "Hauptverkehrszeit" etwas schwammig definierten Perioden nur kalkulierter und nicht wahrhaftiger Natur sein können, stört hier die Vortäuschung falscher Tatsachen, wobei das doch stark nach einen klassischen Oxymoron stinkt, denn Tatsachen haben doch wahr und nicht falsch zu sein, siehe:

  • True Lies.
  • Eile mit Weile.
  • Der Weg ist das Ziel.

Wahren Lügen fällt der gutgläubige Fahrgast auch in Tramway-Belangen zum Opfer, wenn er in Eile eine Weile auf den herbeigesehnten Straßenzug wartet, die nicht den Weg als Ziel hat, und dabei den seit einigen Jahren angebotenen Fahrzeit-Displays in den Stationen vertraut, die ebenso Minutenangeben vorgaukeln.

Wie um alles in der Welt will man Zeit messen, die noch gar nicht vergangen ist?

Straßenbahnschienen

©dugspr / Flickr

Nützen die Verkehrsbetriebe etwa das Privileg eines der Öffentlichkeit nicht bekannten, weil um Missbrauch förmlich buhlenden Zuganges zu einem physikalisch unerklärlichen Loch im Raum-Zeit-Kontinuum, mit dessen Hilfe sie tatsächlich vorherbestimmen können, wie lange ihre Züge jeweils bis zu den nächsten Stationen brauchen werden? Oder sitzen fürstlich entlohnte Hellseher in den Schaltzentralen und ermitteln mit Hilfe von Ruten, Pendeln oder gar nach der Einnahme eines aus seltenen Gräsern, bei Vollmond gehackten Misteln und Katzeninnereien gebrauten Tranks die nächsten Intervalle? Oder ist es doch so, für diese Variante entscheide ich mich rein aus Liebe zur Realitätsapproximierung und entgegen meinem ebenfalls vorhandenen Hang zur Verschwörungstheorie, dass die digitalen, Minuten bezeichnenden Ziffern in grün-gelb einfach ebenso falsch sind wie die gedruckten auf den Fahrplänen, denen sie obendrein a priori widersprechen?

Wie werden die Minutenangaben nun aber ermittelt? Ich vermute, dass Straßen- wie U-Bahnen regelmäßig Messpunkte passieren, mit deren Auswertung automatisch eine größtmöglich wahrheitsgetreue Zeitspanne bis zum Eintreffen des jeweiligen Triebwagens errechnet wird.

Natürlich könnte man sich informieren. Ich könnte eine Servicenummer eruieren, sie wählen, eine oberflächlich kundenfreundliche, aber für den sensiblen Zuhörer eindeutig genervte Stimme am anderen Ende hören, mein Anliegen veranschaulichen, daraufhin weiterverbunden werden, was wahrscheinlich mit sich bringen würde, dass ich vor dem Gespräch mit der für mein Interesse fachkundigen Arbeitskraft einem sich wiederholenden, mit klassischer Musik unterlegten Band Gehör schenken müsste, das mir mit der Stimme eines professionellen Sprechers erklären würde, womöglich sogar mit jener, die auch in den Zügen die folgende Station kundgibt, dass man den Anliegen der Kunden mit größter Entsagung und beispielloser Demut besonders viel Zeit widmet und es daher sein könnte, dass die Wartezeit auf das begehrte Gespräch etwas länger dauert, als es die Durchschnittsgeduld erlaubt, was aber immerhin eine ebenfalls ausführliche und opfermütige Beratung in Aussicht stellt, woraufhin ich die Lautsprecher-Funktion meines mobilen Fernsprechers aktivieren würde und dennoch die anstehende und jederzeit durch eine mit „Guten Tag“ verbundene Namensnennung unterbrochen zu werden drohende Wartezeit nicht zur Zerstreuung oder gar einer allfälligen Haushaltstätigkeit nutzen könnte, da die latente psychische Belastung, die mit der ständig im Raum schwebenden Eventualität, jederzeit mit einem jähen Ende der Warteschleife rechnen zu müssen, nicht zu unterschätzen ist, was zwangsläufig bedeuten würde, dass ich ein, im Gegensatz zu Straßenbahnfahrzeiten nicht einmal annährend eingegrenztes, zeitlich nach oben hin praktisch offenes und quälend langweiliges, weil letztlich informationsarmes Band in Erwartung eines Servicegesprächs abhören müsste und ob des dadurch schier heraufbeschworenen, der Sache nicht angemessenen Nervenverschleißes schließlich vielleicht die Souveränität und Härte vermissen lassen würde, um tatsächlich an die Fakten zu kommen, die ich doch so begehre.

So bleibt mir eigentlich nur die Spekulation. Mit dem bereits Spekulierten, also der recht schlüssigen Theorie, dass die Auswertung regelmäßiger Messpunkte einen Intervallberechnungscomputer speisen, bin ich Grunde nicht unzufrieden, doch kaum bin ich mit meiner Freistil-These, zufrieden, kommt mir ein meinem Standpunkt zwar nicht widersprechender, aber die Sache komplexer machender Gedanke in die Quere. Nämlich die Busse. Während die Zeitmessung bzw. computergenerierte Intervallschätzung bei schienengeführten Linien ja durchaus plausibel erscheint, stellt sich die Sache bei motorbetriebenen Bussen, an deren Haltepunkten sich ebenso Minutendisplays befinden, anders dar. Da Busse weder an Schienen noch an Oberleitungen gebunden sind, also nie die exakt selben Punkte passieren, muss hier eine andere Methode im Spiel sein.

Straßenbahnstation Schottentor in Wien

©dugspr / Flickr

Benützt man die Wiener Straßenbahnlinie 42 in Richtung Schottentor, was ich häufig mache, passiert man die Station "Sensengasse", die es aber nur in Richtung Schottentor, nicht aber in der parallel geführten Gegenrichtung gibt. Delphisch!

Welches Spiel wird hier gespielt? Hat man einfach darauf vergessen? Lenkte Willkür die Feder der Verkehrsplaner? Wäre die Errichtung architektonisch zu kompliziert gewesen oder wurde man etwa Opfer irgendeiner alten Urkunde, in der irgendein Kronprinz in irgendeinem Jahrhundert festgeschrieben hat, dass die (stadtauswärts blickend) rechte Seite der Währinger Straße zwischen Van-Swieten- und Spitalgasse die nächsten tausend Jahre nicht umgestaltet werden darf, weil sich das seine Geliebte zum Namenstag wünschte? Hatte man die Klientel in beiden Fahrtrichtungen soziologisch erforscht und ist zu dem Schluss gekommen, dass tendenziell eher stadteinwärts Reisende hehre oder auch niedrige, jedenfalls aber triftige Motive haben, an dieser Stelle auszusteigen, während die vom ersten Bezirk aus ihre Fahrt Antretenden seltener Anlässe vorweisen, die Spitalgasse anzupeilen?

Und: Gibt es auch Menschen, die dem wohltuenden und durchblutungsfördernden Fußmarsch so konsequent entsagen, dass sie bereit sind, vom Schottentor aus eine beinahe ganze, laut Fahrplanaushang vierzig Minuten (jaja ...) verschlingende Runde zu bestreiten, nur um näher an ihr Ziel zu kommen, als es in der einen Richtung möglich wäre?

"Sensengasse" ist übrigens eindeutig eine Mittagsdurchsage. Hä? Wodsefak?

Ich muss wohl mein privates Durchsage-Spiel erklären: Als "Spiel" oder "Quiz" wäre diese Durchsage-Präsumierung überdefiniert, da der Versuch, genaue Regeln festzumachen, die Kriterien meines heimlichen Steckenpferds als unzureichend entlarven würde. Für zwischenzeitliche Kurzweile ist es aber durchaus tauglich. Wichtig bei der Spielerei ist einerseits, eine gewisse Erfahrung im öffentlichen Verkehr vorweisen zu können und andererseits ein Gehör, das feine Nuancen in der Stimme wahrnehmen kann. Ausgangspunkt war einst die Überlegung, dass die manchmal nur aus einem Straßennamen bestehenden, oft auch um einzelne oder eine Auflistung von Umsteigemöglichkeiten erweiterten Durchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln vermutlich an einem einzigen Tag von dem Sprecher mit der unangenehm nasalen Stimme aufgenommen wurden.

Dafür, dass der unbekannte Herr durch seine Stimmspende das Risiko einging, hinkünftig immer wieder akustisch erkannt zu werden - „Sind Sie nicht der Straßenbahnsprecher? Und? Sind Sie privat genau so lustig? Sagen Sie doch einmal "Praterstern!" - wurde er bestimmt üppiger bezahlt als manch anderer für einen Tag Leistung. Mit Dollarzeichen in den Augen wird der Sprecher, motiviert bis in die Kniekehlen, frühmorgens sein Werk begonnen und einen Stationsnamen nach dem anderen ins Mikrofon gesprochen haben. Den einen oder anderen musste er wohl wiederholen, aber bestimmt klappten nicht wenige Aufnahmen auf Anhieb, denn so viel kann man bei einem Wort nun auch nicht falsch machen. Ob Sätze wie "Umsteigen zu den Linien 5 und 33" stets neu aufgezeichnet wurden oder nur "Umsteigen zur Linie" bzw. "Umsteigen zu den Linien" und die benötigten Zahlen gesondert gesprochen und danach im mühevoller Arbeit zusammengeschnitten wurden, was aber auch bedeutet hätte, dass der Sprecher bei vielen Linien eine Version mit Stimmhebung und eine mit Stimmsenkung am Ende aufnehmen hätte müssen, oder ob wirklich alles eins zu eins gesprochen wurde, kann man natürlich nicht wissen, da wären die Kundenbetreuer bei der Telefonhotline wahrscheinlich ebenfalls ratlos, aber nach einer Kosten-Nutzen-Überschlagsrechnung erwärme ich mich eher für die zweite Möglichkeit.

Das Spiel besteht nun im Wesentlichen daraus, zu erraten, ob die jeweilige Durchsage frühmorgens, eher um die Mittagszeit oder gegen Ende des Aufnahmetages produziert wurde. Nachdem ich damit bereits seit einigen Jahren so manche Fahrstrecke kurzweiliger gestalten konnte und es nicht unwahrscheinlich ist, dass die Teilnehmerzahl an diesem nicht dotierten Quiz auch weltweit überschaubar ist (wahrscheinlich bin ich sogar Erfinder und einziger Teilnehmer in Personalunion), behaupte ich wohl zu Recht, der kompetenteste lebende Experte auf diesem Gebiet zu sein. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Materie glaube ich den Aufnahmezeitpunkt der meisten Durchsagen ziemlich treffsicher bestimmen zu können. Der einzige Anhaltspunkt ist die Stimmfarbe. Da manchmal Linien erweitert werden oder neue dazu kommen, sind auch von Zeit zu Zeit aktuelle Aufnahmen desselben Sprechers zu hören. Da es sich dabei aber immer nur um eine Handvoll handelt, meine ich davon ableiten zu können, wie ein frischer, geistesgegenwärtiger, rassiger, vor Regsamkeit und Arbeitseifer schier berstender Ansager klingt. Andererseits sind mir schon diverse leidenschaftslose, fahle und blutleere Ansagen ins Ohr gesprungen, die betreffend Diktion und Inbrunst erstere fast schon konterkarieren. Von diesen beiden Extremen ausgehend habe ich mit der Zeit eine innere Skala ertüftelt, die ich bei der Inanspruchnahme von Linien, die ich sonst nie oder selten brauche, in Sekundenbruchteilen abrufen und so die bisher unbekannten Ansagen prompt in Aufnahmetageszeitpunkte einteilen kann.

Straßenbahn-Warnhinweis

©dugspr / Flickr

Ich bin mir sicher, nie um mehr als eine Stunde danebenzuliegen. Meine womöglich einzigartige Fähigkeit televisionär in Form einer Wette vor einem Millionenpublikum unter Beweis zu stellen lehne ich allerdings nicht nur aus anerzogener Zurückhaltung und Stilbewusstsein ab, sondern auch, weil meine Spekulationen wohl schwer zu überprüfen wären. Es ist ja auch nichts weiter als ein kleines Nebenbei-Privat-Pläsierchen, für das nicht ganz zu Unrecht noch keine Vereine und Meisterschaften existieren. Und es ist gleichwohl kein Talent, das beim Balzen Entscheidendes bewirkt.

Die Endstation der Linie 42 ist das Schottentor, von dem aus diverse Linien wieder zurück in Richtung Außenbezirke starten. Dort verkündet der Sprecher: "Endstation. Bitte alle aussteigen." (früher Abend) Warum sollen eigentlich alle aussteigen? Ist es denn gesetzeswidrig, aus purer Lebenslust oder auch Langeweile mehrere Runden im selben Waggon zu verharren? Oder will man in Wirklichkeit nur vermeiden, dass die Mehrheit beim Zurückfahren bemerkt, dass in der Gegenrichtung eine Station einfach fehlt?!

Doch gerne leiste ich der Direktive Folge, erhebe mich allerdings erst von meinem Platz, wenn die Straßenbahn zum Stillstand gekommen ist, da es ja keinen Grund gibt, schon hunderte Meter vor der Ankunft aufzuschnellen und mit krampfenden Pranken an den Bakterien übersäten Haltestangen dummdreist in die vorbeiziehende Geographie zu starren, nur um dann als erster den Waggon verlassen zu können, was eine maximale Zeitersparnis von sieben Sekunden bringt, bei auszuladenden Kinderwägen oder geriatrisch verwachsenen Greisen fallweise bis zu zwölf.

Ich bleibe also so lange wie möglich auf meinem Platz, für den es auch kein besseres Wort gibt. Man sitzt da eben auf einem Platz. Ein Sessel hat, in dieser Hinsicht vielen Tieren artverwandt, vier Beine, die nicht in den Boden integriert sind und ist damit versetzbar. Der Stuhl ist der große Bruder des Sessels - Er ist majestätischer, das Bindeglied zwischen letzterem und dem Thron, gepolstert, mit kunstvollen Armlehnen und in puncto Ästhetik der Zweckmäßigkeit nicht hinterherhinkend. Sitze wiederum findet man in Parlamenten, aus Plastik gegossen in Stadien oder Oberschenkelhalsbrüchen vorbeugend in Duschen, aber nicht im öffentlichen Verkehr. Man nimmt auch nicht auf einer Bank, einem Fauteuil oder Canapé, sondern eben auf einem Platz Platz.

Am Schottentor hat man die Möglichkeit, in die U-Bahn umzusteigen. Um eine Ebene tiefer zu gelangen, kann man zwischen der Rolltreppe und dem Aufzug wählen.

Wer anstrebt, Misstrauen zu erfahren, tut gut daran, Aufzüge in Wiener U-Bahn-Stationen zu beanspruchen. Bei vielen gibt es nur ein einziges Fahrziel, das mittels gut sichtbarer Tasten gewählt werden kann. Wer oben ist, fährt in die Tiefe und umgekehrt. Wenn sich bereits Treppen-Antipathisanten in der Kabine befinden und Heraneilende dazu stoßen, könnten Letztere eigentlich annehmen, dass die dem Transport Harrenden bereits die korrekte, weil einzig mögliche Taste betätigt haben. Tun sie aber nicht. Nie! Man hat doch gewissenhaft gedrückt, will doch selbst nichts mehr, als endlich befördert zu werden, aber jeder, der sich noch in vorletzter oder, in Extremfällen, gar letzter Sekunde in das Gehäuse zwängt, lugt argwöhnisch zum an Optionen nicht gerade reichen Menü des Fahrstuhls, häufig wird sogar ein weiteres mal gedrückt, was der Verdächtigung gleichkommt, die etwas eher Zugestiegenen hätten nicht gut genug gedrückt. Nicht erst einmal musste ich erleben, wie die Skepsis sogar durch musternde Blicke in Richtung Insassen untermauert wurde, die zu sagen schienen:

Cover des Romans Rolltreppe von Nicholson Baker

©Rowohlt Verlag

"Ihr Fetzenschädel habt bestimmt nicht gedrückt und steht hier doch nur als Dummies herum, um mir kostbare Lebenszeit zu rauben! Aber nicht mit mir. Ich habe euer Spiel durchschaut und drücke, harharhar."

Bleibt nur die Rolltreppe.

Die Frage hierbei lautet: Stehen oder gehen? Die wurde allerdings schon hinreichend beantwortet: Die Rolltreppe ist ein Gehunterstützendes und nicht -ersetzendes Instrument. Zu diesem Schluss kommt Nicholson Baker in seinem wunderbaren Buch "'Rolltreppe oder Die Herkunft der Dinge", erschienen im Rowohlt-Verlag. Ein schöner Beweis dafür, dass man sich an die großen Fragen des Lebens immer auch anhand der ganz kleinen annähern kann: Woher kommen wir, wohin gehen wir, und vor allem: Was machen wir dazwischen?