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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

2. 2. 2009 - 15:35

Journal '09: 2.2.

Tatort Tatort.

Ich habe ja die Sonntag-Abende der letzten 14 Jahre mit Live-Radio verbracht und deswegen das Gefühl für einen normalen Ablauf dieses einzigen Tages bei dem doch kollektiv sowas wie eine Ruhe- bzw. spezielle Aufnahme-Phase mitschwingt, nicht richtig mitmachen können. Seit letztem Sommer nun, der Zimmerservice-Moderationsteilung mit Martin Pieper hat sich nicht nur der Austausch erhöht, ist nicht nur meine allgemeine Lebensqualität gestiegen, es kam auch zu einer neuen Bewertung des Sonntags, speziell des Sonntag-Abends.

Irgendwie war es im ersten Jahr so, dass ich viel draußen war - auch ein ungewohntes Gefühl. Komischerweise bin ich erst diesen Winter auf etwas gestoßen, was offenbar auch die letzten 14 Jahre durchaus sowas wie Common Sense war, an mir aber vorbeigehen musste: dem sonntäglichen 20.15-Tatort-Schaun. Für euch vertrautes Territorium, für mich wieder ganz was Neues (denn an eine Tatort-Wichtigkeit vor 1995 kann ich mich nicht erinnern).

Die Ludwigshafner Tatort-Ermittler

ard

Folkerts & Assi, sowie Elfriede Jelineks ältere Schwester

Zuletzt war der Zimmerservice-Rhythmus auch so, dass sich das immer ausgegangen ist: Da war die Telfer Konflikt-Story, da war vor zwei Wochen eine in Leipzig spielende Geschichte über Missbrauch in der Kernfamilie und da war gestern abend ein der Lidl-Affäre nachempfundener Film mit Frau Folkerts.

Ebenso wie das am Beispiel des Tiroler Ort Telfs abgehandelte Scheitern von Integration führte die von Discountern gepflogene zunehmende Verunmenschlichung, ja die bewusste Terrorisierung der Arbeitswelt zu einem Themenabend, einer breit angelegten Debatte.

Telfs, Leipzig, Ludwigshafen...

Das passiert in Ausnahme-Fällen (ich erinnere an die Contergan-Spieldoku, die Quandt-Doku, den Fälscher-Schwerpunkt...) im Normal-Programm - ist aber an den Tatort-Sonntagen fast schon Usus. Und: auch wenn es nach einem Tatort-Fall keine Anschluss-Diskussion im TV-Kistl gibt - sie wird entweder direkt danach auf der Fernseh-Couch oder am Montag "im Büro" geführt. Die Frage "Hast gestern den Tatort gesehen?" ist ein montäglicher Regular.

Letztlich ist also der sonntägliche Tatort der einzige noch zielführende Versammlungsort für Inhalte.
Das, was sonst noch via Dschungelcamp, Starmania, Model-Contest oder Bohlen-Superstardingens und in einigen wenigen Fällen von aufsehenerregenden Serien funktioniert (nämlich öffentlicher Austausch über ein kollektives TV-Erlebnis) und dort keine Bedeutung hat, außer einem Sich-Absichern, dass auch "die anderen" den Voyeurismus pflegen, ist ausschließlich noch nach dem sonntäglichen Tatort sinnstiftend.

Tatort-Ermittler Krassnitzer

orf

Krassnitzer im Telfer Fall

Wohl deshalb ist der (qualitativ auch immer durchaus hoch zu rankende) Krimi das wesentliche Feld für gesellschaftlichen Diskurs. Der Tatort greift brennende gesellschaftliche Fragen auf, packt sie in eine spannende Geschichte und versieht sie - so wie jeder gute Krimi - mit einer Moral.

Letztlich hat also die Fiktion zentrale Aufgaben von Berichterstattung und auch feuilletonistischem Diskurs übernommen. Und erstaunlicherweise funktioniert es: Die Zuschauer (aller Alters- und Bildungsgruppen) setzen sich massenhaft altmodischen Konventionen (wie dem Sich-Einfinden vor dem TV-Kübel) und höchst freiwillig auch durchaus schwierigen Themen aus.

Der Schlüssel zu den schweren Themen

Noch dazu bietet das 90-Minuten-Format auch noch die Chance von dramaturgischer und inhaltlichert Vertiefung. Die exakt selbe Story von Gewalt in der Familie im zuvor angesprochenen Tatort, hab ich (auf 50 Minuten gedrängt) in einer qualitativ durchaus okayen US-Serien gesehen - und es war, auch wegen der Zeit, die so ein Topic zur Entwicklung braucht, kein Vergleich.

Die Leipziger Tatort-Ermittler

ard

Thomalla-Wuttke, Leipzig

Tatort ist also Luxus - vielleicht der wichtigste Medien-Luxus unserer Tage - und deshalb am Sonntag so gut aufgehoben. Tatort widerspricht auch allen neuen Medien-Regeln, die von jederzeitigem Zugriff, verknappter Verkürzung, inhaltlicher Entleerung und formaler Einfachheit sprechen - dabei aber den alten Lagerfeuer-Aspekt auslassen, der früher in der großen Samstag-Abend-Show kulminierte.
Die braucht keine Sau mehr (zumindest unter den neuen Medien-Nutzern) - das Bedürfnis zur kollektiven Betrachtung von wichtigen gesellschaftlichen Themen ist aber fraglos da. Die Sonntags-Tatort-Routine beweist es.

Klar - ihr anderen Menschen habt das alles schon längst gewusst. Für mich war das neu. Und analytisch (zumindest hierzulande, wo sich TV-Rezeption gern in strategischem Genöle erschöpft) ein wenig unterbeachtet.