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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

31. 1. 2009 - 12:19

Essen aus dem Müll

Freegans essen, was die Überflussgesellschaft wegwirft. Auf Trash Tour durch Manhattan.

Es ist angerichtet! Direkt auf der 3rd Avenue, Ecke 38th Street. Doch wo ist die Tafel? Wo verbergen sich kiloweise Brot, Gemüse und Salat? Ein kleines Bilderrätsel zum Einstieg in die Nacht der Freegans.

Müllsäcke voller Nahrungsmittel in Manhattan

Radio FM4 / Christian Lehner

Kate ist soeben auf Gold gestoßen, bzw. Schokolade, Popcorn und Cookies. Alles noch sauber verpackt. Die Goodies sind erst vor wenigen Minuten auf dem Gehsteig gelandet. Abgepackt in Dutzende Plastiksäcke, gut versteckt vor der Scham des zivilisatorischen Auges. Überfluss to be revealed. Um 9 Uhr Abends schließen die Supermärkte in Midtown/Manhattan. Was nicht verkauft wurde, kommt auf die Straße. Erntezeit für die Freegans. Gut zwei Stunden bleiben Zeit, bis die Müllabfuhr die Säcke abholt.

Freegan Janet gibt Orange weiter

Radio FM4 / Christian Lehner

Die ersten trash bags werden fachmännisch geöffnet. Passanten bleiben stehen und schütteln den Kopf, andere staunen. Essen aus dem Müll? Mitten in New York? Widerlich! Für Jason kein Problem. Er ist ein so genannter Freegan und verspeist, was andere wegwerfen. Der junge Mann aus Brooklyn leitet das Grüppchen, das sich heute bei minus 17 Grad Celsius auf Trash Tour begibt. Dumpster Diving ist ein anderer Ausdruck für das Wühlen im Müll der Großstadt. "Der Zweck ist Lebensmittel zu sammeln, für jeden einzelen, aber auch für ein gemeinsames Freegan-Festessen am Wochenende", erklärt Jason all jenen, die sich heute zum ersten Mal für das Gratisbuffet auf der Straße entschieden haben. Schon beim ersten Supermarkt finden die Freegans reichlich Obst, Gemüse, aber auch abgepackten Schinken.

Bagels und Obst aus dem Müll

Radio FM4 / Christian Lehner

Freeganismus ist ein konsumkritischer Lebensstil. Das Wort setzt sich zusammen aus "Free" für "frei" und "vegan" für "Veganer". Hervorgegangen aus den globalisierungskritischen Bewegungen der 90er Jahre, gibt es heute in fast allen westlichen Metropolen Freegan-Gruppen (so auch in Wien). Verbraucht wird der Müll der Gesellschaft: Kleidung, Möbel, vor allem aber Nahrungsmittel.

Nicht alle in der Gruppe sind Veganer oder leben ausschließlich von dem, was die Straße hergibt. Die Mehrzahl versucht jedoch, den Konsum so weit wie möglich auf Produkte zu beschränken, die bereits von anderen Menschen oder Institutionen gekauft und weggeworfen wurden. Wann immer es die bürgerliche Existenz zulässt, schließen sie sich einer Trash Tour an. Andere wiederum verweigern jegliche Partizipation an der aktiven Konsumgesellschaft, gehen – so wie Jason - keiner geregelten Arbeit nach und leben in besetzten Häusern.

Freegan packt Lebensmittel in Tasche

Radio FM4 / Christian Lehner

"Nehmt nur, was ihr essen werdet und gebt den Rest zurück in die Müllsäcke, damit wir keinen Ärger bekommen“, gibt Cindy Rosin Anweisungen. Die Kunstschullehrerin ernährt sich seit vielen Jahren von der Straße. Sie kritisiert die Verwertungsmechanismen der Lebensmittelindustrie "Bei den großen Ketten erfolgt die Bestellung der Ware automatisiert. Was nicht verkauft wird, landet großteils im Müll", erklärt die Sprecherin der New Yorker Freegans, "egal, ob abgelaufen oder nicht. Es muss Platz geschaffen werden für die Lieferung am nächsten Morgen. Die ganze Arbeit, der Nährwert, die Energie, die in den Lebensmitteln steckt, das alles soll plötzlich wertlos sein, nur weil die Verkaufregale immer schön voll sein müssen. Wir Freegans versuchen diesen Prozess umzukehren. Wir sagen: Diese Ware kommt von der Erde, sie kann Menschen ernähren. Wir geben ihr den Wert zurück". Schätzungen zu Folge, werden in den den USA 50% aller produzuierten Lebensmittel weggeworfen.

Die Lebenseinstellung erinnert an die Straight Edge Bewegung des Hardcore, ist aber ganz und gar ein Kind unserer Zeit, weil ideologisch nicht mehr eindeutig festlegbar. Es existieren viele Subtribes und verwandte Gruppierungen wie zum Beispiel Food Not Bombs.

Freegans zwischen Straße und Müllsäcken

Radio FM4 / Christian Lehner

Die Menge und Qualität der Straßenwaren überrascht und ist beschämend zugleich. Vieles ist original verpackt und noch nicht abgelaufen. In dieser Nacht finden die Freegans Salat, Tomaten, Joghurt, Butter, Cornflakes und immer wieder Brot, Brot, Brot. Jason ist begeistert von der Ausbeute. "Die Menschen glauben, dass das Essen verdorben ist, nur weil es aus dem Müllsack kommt", so der Aktivist, während er an einem Cookie kaut. "Tatsächlich ist das hier 1A Qualitätsware, die ich mir regulär gar nicht leisten könnte". Hygienische Bedenken hat niemand. "Warum auch", meint Janet, "das Zeug ist vor wenigen Minuten noch in den Verkaufsregalen gelegen".

Während Freegans im Norden in den meisten Fällen von Wachdiensten ungehindert ihr Essen aus dem Müll holen dürfen, sieht in der südlichen Heminsphäre die Sache anders aus.

(Natalie Brunner)

Zwei- bis viertausend Freegans gibt es in NY, schätzt Cindy Rosin. An diesem Abend schließen sich spontan einige Passanten an. Verschämt blickt eine ältere Frau um sich. Sie hat Angst von Nachbarn erkannt zu werden. Fünf Minuten später schleicht sie mit einigen Dosen Hunderfutter davon. "Das kommt momentan häufig vor", so Rosin. In Zeiten der Wirtschaftkrise ist es die blanke Not, die eine Ottonormalverbraucherin zu einer Mülltonnen-Shopperin werden lässt. Die Innenarchitektin Kate ist seit einer Woche arbeitslos. "Die NGO, für die ich tätig war, hat aufgrund der Finanzkrise den Sponsor verloren... Mein Geld reicht gerade für die Miete." Heute hat sie zum ersten Mal an einer Trash Tour teilgenommen.

"Das hat sich ausgezahlt. Ich habe genug Essen für eine ganze Woche, darunter ein verpacktes Hühnchen, Brot, Cookies, Sauce und Käse. Ich werde definitiv wiederkommen. Doch trotz der Freude über die Gratis-Lebensmittel, das langfristige Ziel dieser Freegan-Aktionen besteht dann wohl doch eher darin, sie überflüssig zu machen."