Erstellt am: 29. 1. 2009 - 18:39 Uhr
Dissertieren mit Meinecke
Vivian zwischen ihren Platten von Veruca Salt, vermeintlichen Riot Girl-Freundinnen und Foucault gewann in "Tomboy“ auf der ersten Seite meine Sympathie. In seinem aktuellen Roman "Jungfrau" lässt Thomas Meinecke seine Figuren das vielschichtige Thema Fleisch und katholische Kirche verhandeln. Und die männliche Hauptfigur der selbst auferlegten Enthaltsamkeit frönen. Silbern glänzt der Einband.
"French movies: okay. French kissing: no way."
Wolfgang Lückel
Uniprofessoren würden vor Freude Diplomarbeitsthemen verteilen und Dissertanten in spe vor sich wähnen: Meineckes Studenten gehen voll und ganz in ihren Studien auf. Während viele von uns derzeit mitunter in zwei, drei Nächten den Semesterstoff inhalieren, sind Lothar Lothar und seine Freunde längst in ein Stadium größtmöglicher Obsession mit ihren Hausarbeitsthemen eingetreten.
Bei Medizinstudenten gibt es das temporäre Phänomen, kleine Auffälligkeiten bis hin zu ganzen Krankheitsbildern am eigenen Körper entdeckt zu glauben. Meineckes Studenten der Geisteswissenschaften und der Katholischen Theologie weisen ähnliche Verhaltensweisen auf. Die Beschäftigung hat Auswirkungen. Am stärksten betroffen: Lothar Lothar, den sein Beschäftigungsgebiet von Kopf bis Fuß zu erfassen scheint.
Überhaupt: Lothar Lothar, welch armer Kerl muss mit diesem Doppelnamen leben. "Vorname auf der ersten, Nachname auf der zweiten Silbe betont."
Seminararbeiten und Obsessionen
Jeannine Waterstradt indes widmet ihre Freizeit dem Leben und Werk der B-Movie-Schauspielerin Maria Montez als zentralen Gegenstand ihrer theaterwissenschaftlichen Untersuchung. Während sich Lothar Lothar so, ja zu sehr in das Werk der Mystikerin Adrienne von Speyr und des Theologen Hans Urs von Balthasar vertieft. Die Beziehung geht nahtlos in eine Freundschaft über. Denn der zur Theologie gewechselte vormals Theaterwissenschaften studierende Lothar eröffnet seiner Freundin, sich ein Keuschheitsgelübde auferlegt zu haben.
Bereits mit der Bekanntschaft einer schottischen Pianistin, Mary Lou Mackay, kommt er ins Grübeln über sein Gelübde. Mary Lou Mackay ihrerseits ist von der deutschen Pianisten Jutta Hipp fasziniert. Der erweiterte Freundeskreis Lothars, das Paar Concordia Werkmeister und Gustav Becher, erzählt sich Romanhandlungen nach und diskutiert. Gustav, der sich "jetzt Gustave, wie Courbet, Moreau, Flaubert" nennt und "auch seinen Fachnamen im Freundeskreis französisch aussprechen" lässt, fragt sich, ob Freund Lothar durch die Enthaltsamkeit in einen jungfräulichen Zustand rückversetzt wird.
Sekundärliteratur, remixed
Mehr Lesestoff
gibt es auch unter fm4.orf.at/buch
Erklärungen des Papstes, weshalb das Wort "Ecclesia" denn weiblich sei und die Herkunft des Begriffs BH, englisch "bra" von "brassiere", sind da Details, die Platz finden an Küchentischen und neben einem halben Dutzend Biografien in ausgewählten Ereignissen samt Jahreszahlen im Roman. Mit dem Jesuiten Hans Urs von Balthasar und seiner "Amica" Adrienne von Speyr zieht Meinecke einen ganzen Schleier von Deutungen und Auslegungen zu Marias Jungfräulichkeit am Leser vorbei. Das Leben der dominikanischen Schauspielerin Maria Montez bietet sich für ganze Dialogauszüge Andy Wahrhols an. Hinzukommen dann noch Ronald Tavel und sein "Theatre of the Ridiculous" und diverse filmische Auseinandersetzungen mit Mystik und Heiligen, die von den Studenten in "Jungfrau" begeistert rezipiert werden. Die Sekundärliteratur wird praktischer- und seitenweise mitgeliefert. Auch eine ausgewählte Filmografie zum Spezialgebiet ist zusammengestellt. Allerdings nicht im Anhang, vielmehr mitten im Roman.
Kaum Raum bleibt da für die Charaktere der Protagonisten. Sie holen vergriffene Werke aus den entlegensten Antiquariaten, per Fernleihe erhaltene Ausgaben verschlingen sie umgehend, um den Freundeskreis anschließend damit zu füttern. Die geistige – im doppelten Sinne – Beschäftigung dringt in das Privatleben ein. Jeannine holt sich „ein Kompendium über die wechselnden Beziehungen zwischen Eros und Religion“ aus der Unibibliothek, um einschätzen zu können, was mit ihrem Ex-Freund Lothar vor sich geht.
Ein Höhepunkt ist der Ausflug zum Kloster der Unbeschulten Karmelitinnen.Spätestens in der zweiten Hälfte des Romans scheinen sich Lothar und Freunde in ihren eigenen Fußnoten zu verlieren. Der Diskurs über den Diskurs droht in einer Endlosschleife an zitierten Zitaten zu rotieren. Unkomisch ist das nicht. Spätestens, wenn sich die Pianistin Mary Lou auf Tournee in einem Brief an ihren Theologie-Studenten fragt, ob auch der Postfeminismus als Feminismus zu bezeichnen wäre und kurz darauf Quentin Tarantino als Fußfetischisten bezeichnet, lacht man laut.
© Suhrkamp Verlag GmbH und Co. KG
"Jungfrau" von Thomas Meinecke ist 2008 bei Suhrkamp erschienen.
Jahre bevor mir Foucaults Werk im Original in einem literaturwissenschaftlichen Seminar begegnete, hat ihn die Romanfigur Vivian in "Tomboy" befragt. Michel Foucault taucht auch in "Jungfrau" auf. Was Thomas Meinecke an Thesen und teils wahrhaftig verqueren Ansichten und Auslegungen zum weiblichen Körper im katholischen Weltbild kurzfasst, hat durchaus seinen Reiz. Wenngleich Theologiestudenten in Sachen Lesevergnügen wohl im Vorteil sind. Das holde Mutterbild bricht Meinecke mit der Mitbewohnerin Lothar Lothars. Die lässt während ihrer Schwangerschaft nicht von ihrem Geliebten, einem Lokalpolitiker, ab. Nach der Geburt des Kindes schiebt sie mit einem weiteren Freund den Kinderwagen.
Legt Thomas Meinecke eigentlich so auf, wie er schreibt? Sekundärliteratur sampeln hier, Beats da? Der Musiker, Mitbegründer von "F.S.K.", Autor und DJ liest heute in Graz und legt anschließend auch auf.
Jungfrau. Nothelfer
Thomas Meinecke liest wie auch Bodo Hell heute, 29.1., im Kulturzentrum bei den Minoriten, Kleiner Minoritensaal, Mariahilferplatz 3, 8020 Graz. Beginn: 20 Uhr. Ab 22 Uhr wird Meinecke in der Scherbe, Stockergasse 2, 8020 auflegen.