Erstellt am: 28. 1. 2009 - 14:35 Uhr
Oh Crackt'n, mein Crackt'n!
Im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen aus ihrem eigenen Schulalltag erzählen, sind Lehrer, die auf der Leinwand Klassenzimmer mit Enthusiasmus im Gepäck und Ledertasche unterm Arm betreten, meist inspirierende Wegbegleiter und rebellische Kämpfer. Und grad so, als müsste ein Film übers Schulsystem ebenso einen Erfolgsnachweis erbringen, sind diese Filme meist Geschichten von Läuterungen und gelungenen kleinen Palastrevolutionen. Auch wenn der Lehrer vom Schulsystem in die Wüste geschickt wird, geht seine Saat von Zivilcourage oder Toleranz auf und blüht in seinen Schülern weiter. So steigen dann Internatszöglinge auf die Tische und schreien "Oh Käpt'n, mein Käpt'n" oder Gangsterkinder zitieren plötzlich Dylan Thomas Gedichte. Veränderung, flüstern einem diese Filme zu, ist möglich.
"Half Nelson" ist die Spielfilmvariation von Ryan Flecks Kurzfilm "Gowanus Brooklyn", der am Sundance Festival mit dem Short Filmmaking Award ausgezeichnet wurde.
Geschichte und Gegenwart
Davon ist rein theoretisch auch Dan Dunne (Ryan Gosling) überzeugt, an einer High School in Brooklyn unterrichtet er Geschichte, spricht über die Wichtigkeit von Veränderung und pfeift auf die ihm aufgedrängten Unterrichtsmaterialien. Ein Vergangenheits-Experte, der aber bei der Gegenwarts-Meisterung scheitert. Denn außerhalb des Klassenzimmers, ist es gerade die Veränderung, die Dan negiert. "Same old, same old" murmelt er auf die Frage seiner Ex-Freundin Rachel, was bei ihm so los sei, um später ein "I don't change" dranzusetzen, damit meint er nicht nur, aber vor allem seinen Drogenkonsum. Koks und Crack sind die Krücken, auf denen Dan durch seinen Alltag humpelt.
Polyfilm
Dan und Drey
"You're a big baby", sagt Rachel und tatsächlich bringt Dan die Autoritätspyramide der Schule durcheinander. Die Direktorin nimmt ihm am Gang den Kaugummi ab und seine Schülerin Drey erwischt ihn beim Drogennehmen auf der Schultoilette. In der unangenehmen Situation findet eine Freundschaft ihren Ursprung, die tatsächlich das Adjektiv "ungewöhnlich" verdient, auch wenn die "ungewöhnliche Freundschaft" nicht erst seit "Cap und Capper" in Filmbeschreibungen mehr als überstrapaziert wird. Von nun an versucht Dan zu verhindern, dass Drey auf die schiefe Dealerbahn gerät und Drey wiederum wirft in ihrer ungeheuer abgeklärten Art einen Blick auf Dan.
Polyfilm
Kapitulation, Ohohoh
Ryan Gosling ist großartig in seinen Gestiken der Alltagskapitulaton. Blass und mit müden Augen, in denen dann während des Unterrichts doch Enthusiasmus zu finden ist, schlurft er durch sein Leben und scheitert auch an seinen eigenen hohen Ansprüchen. Und das ist es auch, was "Half Nelson" so interessant macht: Die Diskrepanz zwischen gehegten Idealen und das Leben ebendieser.
Regisseur Ryan Fleck zeichnet mit einer Kamera, die teilweise zur Choreographie eines Dokumentarfilms tanzt, eine Kapitulation ohne Pathos, eine versuchte Errettung ohne in Kitsch oder Stehsätze abzudriften, seine Erzählhaltung schafft es, Drogen weder zu verteufeln noch uns Lebenszeit mit Drogenrausch-Szenen zu rauben, die in anderen Filmen oft so verzweifelt Spaß, Lust, Erlösung, Eskapismus zeigen sollen und doch immer nur daneben gehen. In keiner Sekunde betritt "Half Nelson" den ausgelatschen Pfad des pädagogisch motivierten Lehrerfilms. Die Freundschaft zwischen Drey und Dan wird nicht zur Wunderwaffe gegen ihre Probleme. Das einengende Schulsystem, Dans Sucht und Dreys potentielle Zukunft als Dealerin lösen sich nicht durch von Affirmation triefende Dialoge in Luft auf und doch präsentiert Fleck gegen Ende sowas wie Hoffnung, entstehend aus einem schlecht erzählten guten Witz. Das macht ihm so schnell keiner nach.
Polyfilm
Mit großer Verspätung
Dass "Half Nelson" erst jetzt in die Kinos kommt und nicht im Zuge der durchwegs begeisterten Festivalberrichterstattung im Jahre 2006 bleibt ein wenig rätselhaft, spätestens Anfang 2007 hätte man mit Ryan Goslings Oscar-Nominierung für seine Rolle des Dan Dunne den Werbungsaufwind nutzen können - inzwischen ist der Film auch auf DVD erhältlich, was den Kinostart wohl zu einem Schuss ins eigene Knie macht. Dankbarerweise wurde aber drauf verzichtet den Titel einzudeutschen oder - meistens noch danebener - mittels Bindestrich einen dranzuhängen, dabei ist in den seltensten Fällen eine Erklärung zum Titel so interessant und Aha-Effektig wie hier: Half Nelson bezeichnet beim Ringen einen Griff, der einem in die Rückenlage und zum Aufgeben zwingt; eine Standardübung von repressiven Systemen.