Erstellt am: 3. 1. 2009 - 11:15 Uhr
... Rock'n'roll will never die
Wenn das der verstorbene Joe Strummer noch hören würde. "Should I Stay Or Should I Go?" röhrt eine 92-jährige Dame ins Mikrofon. Eine Gruppe weißhaariger Herren klatscht dazu begeistert im Takt. The Clash, gesungen von einem rüstigen Rentnerchor, ist das jetzt die endgültige Novelty-Verniedlichung des Punkrock? Sind die einstigen Verweigerungsgesten nach dem Kindergarten auch im Altersheim angekommen? Keineswegs. Young@Heart, so heißt nicht nur dieser einmalige Chor aus amerikanischen Pensionisten, dessen Repertoire von Punk bis Funk reicht. Young@Heart, das ist auch ein soziales und musikalisches Experiment, weit weg von respektlosen Parodien.
Timothy White
Die Songvorschläge kommen von einem regelrechten Jungspund. Bob Cilman, heute Anfang Fünfzig, begann in den Achtzigern, in einem Seniorenheim in Massachusetts als Musiklehrer zu arbeiten. Aus harmlosen Gesangsstunden entstand eine Idee: Warum nicht statt Oldies und Evergreens ungewöhnliche Nummern ausprobieren? Warum nicht Stücke erarbeiten, die den alten Leuten beim ersten Anhören völlig fremd sind? Seit damals quält Bob Cilman seine wechselnden Chormitglieder mit Songs von den Talking Heads, James Brown, Nirvana oder sogar Sonic Youth. Und die alten Damen und Herren genießen es. Nicht nur, weil der Rock'n'Roll in angloamerikanischen Ländern neben der Klassik und dem Folk halt zum Kulturgut gehört. Mit diesem Chor aufzutreten, das heißt auch, gegen die eigene Zerbrechlichkeit und gegen das Sterben anzusingen.
Manchmal gewinnt der Tod, wie einige besonders berührende Szenen des Films 'Young@Heart' zeigen. Der britische Regisseur Stephen Walker begleitete den Chor aus Northampton monatelang bei Proben und Konzerten. Zweimal, kurz vor wichtigen Auftritten, holt das Schicksal die Protagonisten ein. So erliegt etwa einer der wichtigsten Sänger einer schweren Krankheit, sein bester Freund muss alleine vors Publikum treten.
Brandy Eve Allen
'Young@Heart' ist voll von herzzerreißenden Momenten, aber alles andere als ein filmisches Trauerspiel. Es ist der Humor der unermüdlichen Greise, der den Streifen letztlich dominiert und der ansteckend wirkt. Was für mich aber von Stephen Walkers Streifen am meisten zurückblieb und mir noch lange im Kopf herumgeistern wird, ist die vitale Bedeutung, die Pop(-uläre) Musik haben kann, wenn man sie nicht als austauschbare Klangtapete oder hirntote Ablenkung missversteht. Assoziiert man hierzulande Pensionisten vor allem mit volkstümlicher Berieselung und kollektiver Flucht in das schaurige Schunkeln, kreisen die 'Young@Heart'-Songs um Leidenschaft und Liebe, um Sex und Tod, um Euphorie und Energie, bis ins Grab. Bei aller Skepsis gegenüber manchen Vorschlägen von Bob Cilman spüren diese feinfühligen alten Menschen, dass in der kollektiven Auseinandersetzung mit den großen Dingen letztlich eine befreiende Magie ruht.
Jeff Derose
Dieser Ansatz, dass es bei allem Bühnenvergnügen immer auch ums Ganze geht, um eine Idee von Rock'n'Roll als kathartische Kraft, lässt die Texte mancher Nummern in ganz neuem Licht erstrahlen. (Post-)Punk-Klassiker und Pophits, von 'Road To Nowhere' und 'Stayin' Alive' bis zu 'Golden Years' und 'I Wanna Be Sedated', erschließen sich plötzlich Satz für Satz auf nahezu existentielle Weise. Jeder süßliche Coldplay-Song wird durch diese alten Menschen zu einer Hymne für das Leben.
Alle Infos zum Film:
youngatheart.senator.de
'Young@Heart' mag stilistisch konventionell gemacht sein und in manchen inszenierten Videoclips geht der geriatrische Witz eine Spur zu weit. Aber wer Musik wirklich liebt und vor allem auch selber Musik macht, kommt an diesem Film nicht vorbei.