Erstellt am: 19. 12. 2016 - 10:31 Uhr
Neues! Altes!
FM4 Musikredakteur_Innen empfehlen Alben, die 2016 mit zahlreichem Bonusmaterial neu veröffentlicht wurden.
Das Album, das alles verändert hat
Susi Ondrusova über R.E.M. "Out Of Time"

Warner
Vor 25 Jahren ist nicht nur Nirvanas "Nevermind" erschienen, sondern "Out Of Time" von R.E.M., das eine ähnlich wichtige Rolle in der Geschichtsschreibung von Underground und Mainstream hat. 1991 war schließlich das Jahr, in dem die Grammys um die Kategorie "Alternative" reicher wurden. Michael Stipe hat bei der Dankesrede das Publikum gebeten, sich für die bevorstehenden US-Wahlen zu registrieren, bevor er mit einem "Peace!" von der Bühne ging. "Out Of Time" war das siebente Album der Band aus Athens, Georgia und ihr zweites bei einem Major Label.
R.E.M.-Gitarrist Peter Buck hatte sich eine Mandoline gekauft und beim Fernsehen verschiedene Riffs ausprobiert, eines davon war die heute unverkennbare Melodie von eben "Losing My Religion". Anfangs zierte sich das Label, den Song als Single herauszubringen. Es ist genau diese Nummer, die für den Popularitätsschub und die Platin-Verkäufe verantwortlich ist. Andere Tracks wie "Shiny Happy People" liefen auf MTV zwar rauf und runter, spalteten aber die Fans, die das mysteriöse Nuscheln von Michael Stipe schätzen gelernt haben und durch die Direktheit der Nummer verstört waren. Skip-Taste gabe es damals keine. Anlässlich des 25.jährigen Jubiläums, ist das Album mit zahlreichen Bonustracks neu erschienen. Für alle Fans, die die Hits in ihrem Früh-Stadium kennenlernen wollen. In ihrer bis 2011 andauernden Karriere konnten R.E.M. – rein kommerziell – nicht an den Erfolg von "Out Of Time" anknüpfen. Musikalisch kann man sich heute lange streiten, ob R.E.M. in den 00er Jahren überhaupt jemand gebraucht hat. Aus den 90ern sind sie mit "Out Of Time", "Automatic For The People", "Monster" und "New Adventures in Hi-Fi" nicht wegzudenken.
Totgeglaubte leben länger
Florian Wörgötter empfiehlt Ice Cube´s "Death Certificte"
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Ice Cube
Als Chefautor der Westcoast-Rap-Pioniere N.W.A definierte Ice Cube Ende der 1980erjahre die Grammatik der expliziten Gangsterlyrik. Weil er von Manager Jerry Heller nicht über den Tisch gezogen werden wollte, verließ der Rapper aus Compton, L.A., seine Partner Dr. Dre, Eazy-E & Co, startete eine erfolgreiche Solokarriere und drehte Gangsterstreifen wie "Boyz'n the Hood" und "Friday". Seinen kreativen Höhepunkt erreichte Ice Cube aber mit seinem Zweitwerk "Death Certificate" (1991).
Schon das Albumcover suggeriert die Zielscheibe seines Protests: Damit die Schwarze Community aufleben kann, muss Uncle Sam und seine weiße Vorherrschaft erst die Patschen strecken. Ice Cube kanalisiert die Wut der Straße radikaler, kontroversieller als zuvor, wenn er rassistisch motivierte Polizeigewalt anprangert, den Waffengebrauch parodiert ("Man´s Best Friend"), den strukturellen Rassismus der Vereinigten Staaten als "White Devil" zu entlarven glaubt. Diese brandheißen Themen erscheinen während den L.A.-Riots von 1992 ebenso aktuell wie im Jahr 2016, in dem regelmäßig Video-Schnipsel von Polizeiübergriffen das soziale Klima erhitzen und der angehende Präsident sich nur halbherzig vom Ku-Klux-Klan distanziert. Was allerdings heute wie damals entbehrlich ist: Ice Cubes mitunter rassistische, misogyne, homophobe Gangster-Klischees.
Die Feinmontage des Fragments
Robert Rotifer über Big Star - "Complete Third"

Omnivore Rec
Eine gescheiterte Band im Jahre '74, so nah an der Desintegration, dass Alex Chilton, Jody Stephens und Produzent Jim Dickinson weder wussten, ob die fragil graziösen Songs, an denen sie in den Ardent Studios in Memphis arbeiteten, nun als drittes Big Star-Album, als Chilton Solo-Platte, als das Debüt von "Sister Lovers" oder am besten gar nicht erscheinen sollten. 1978 schließlich veröffentlichte das Label PVC eine ohne Zutun der Urheber zusammengestellte Auswahl des Materials. Die Welt hatte begonnen, Big Star als verschollene Brücke zwischen den Sixties und dem Power Pop der Post-Punk-Ära zu entdecken, und um ihr posthumes "drittes Album" bildete sich bald ein magnetischer Mythos. Dies war offenbar der rohe Soundtrack eines drogeninduzierten Nervenzusammenbruchs, von der tragischen Romantik von "Big Black Car" über den bitteren Sarkasmus von "Thank You Friends" bis zum schockierenden Tiefschlag "Holocaust". Die Mission des Labels Omnivore, über 40 Jahre nach den Aufnahmen und 6 Jahre nach Chiltons Tod alle 69 Demos, Rough Mixes und Masters der Sessions in einem chronologisch gereihten Box-Set namens "Complete Third" zusammenzutragen, enthüllt nun die scheinbare Unfertigkeit von "Third" als konsequente Suche nach dem perfekten Fragment. Und schadet dem Mythos doch kein bisschen.
Martin Pieper über Grace Jones "Warm Leatherette"

grace jones
Grace Jones war vor ihrem vierten Album "Warm Leatherette" eine mittelberühmte Discoperformerin. Ihr New York Style Disco voller Streicher und Opulenz war schon ein Auslaufmodell und das Studio 54 am Zusperren, New Wave und Postpunk waren der neue heiße Scheiß. Statt sich auf den Weg in die Vergessenheit zu begeben wie so viele andere Disco-Diven hat sich Grace Jones allerdings radikal neu erfunden. Das erste Ergebnis dieses Neustarts war das Album „Warm Leatherette“, die von den sogenannten "Compass All Stars" rund um das unschlagbare Bass-Schlagzeug Duo Sly and Robbie geprägt wurde. Der knochentrockene Dub-Reggae-Minimalismus und das kühl-android-androgyne Image von Grace Jones haben eine Reihe von damals sehr aktuellen Songs und Undergroundhits zu echten Popklassikern gemacht.
Warm Leatherette, eine britische Post-Punk-Obskurität des damals startendenden Labels Mute Records wurde von Grace Jones via Recording Session auf den Bahamas zum globalen Phänomen. "Private Life" ist im Original von den Pretenders ein verhatschter DIY-Reggae. In der Version von Grace Jones wird er eine, von aller Sentimentalität befreite, Abrechnung einer Rachegöttin. "Your sentimental gestures only bore me to death" singt Grace Jones und man glaubt es ihr aufs Wort. Erstmals wurde für "Warm Leatherette" der Look des Albums auch von ihrem damaligen Lebengefährten Jean Paul Goude gestaltet, der auch später all die ikonischen Bilder der Figur "Grace Jones" erfand. Auf diesem Reissue ist das Artwork endlich wieder in originaler Pracht zu sehen ist: Grace Jones, schwanger, mit neuer Brikett-Frisur und einem Blick der direkt auf den Betrachter zielt. Und sonst? Alle Hits der Platte in diversen Edits. Mal in kürzeren, mal in längeren Versionen und vor allem sind alle essentiellen Dubs enthalten. Als Draufgabe gibt es ihre verstörende Version von Joy Divisions "She's Lost Control".
Ein Meisterwerk
Eva Umbauer empfiehlt Tori Amos "Boys For Pele"

Warner
"Boys For Pele" war das dritte Album der in den 90ern bekannt gewordenen US-Musikerin Tori Amos. Myra Ellen Amos, wie die aus South Carolina stammende Tori Amos eigentlich heißt, hatte sich erst als Rocksängerin in Los Angeles versucht, fand dann aber Erfolg mit eigenwilligem Piano-Pop. Den Albumtitel "Boys For Pele" erklärte Tori Amos damals, als das Album erschien, so: "Ich habe diese Platte gemacht, als all meine Beziehungen zu Männern - egal ob Liebhaber, gute Freunde oder Mentoren - zuvor in die Brüche gegangen waren. Sie hatten all mein 'Feuer' geraubt, und auch ich habe ihres geraubt, weil ich dachte, ich hatte selbst keines. Ich musste meine ganz eigene Leidenschaft erst entdecken." - Pele ist in diesem Fall nicht die brasilianische Fußballlegende, sondern die hawaiianische Vulkan- und Feuergöttin.
Die Wiederveröffentlichung dieses vor fast 21 Jahren erschienen Albums von Tori Amos kommt mit nun insgesamt 39 Songs als wirklich umfangreiches Werk daher. Zu den ursprünglichen Songs - die allesamt 'digitally remastered' wurden - kommen rare Tracks hinzu, genauso wie alternative Aufnahmen von bekannten Stücken oder Live-Versionen von Songs hinzu. Zum Beispiel die 'Dakota Version' von "Hey Jupiter", einem der Herzstücke von "Boys For Pele", das bisher unveröffentlichte "To The Fair Motormaids Of Japan" oder "Professional Widow" im 'Merry Widow'-Mix. "Boys For Pele" ist intensiv, sinnlich und subversiv, auch noch nach über zwanzig Jahren. Ein Meisterwerk.