Erstellt am: 4. 2. 2016 - 19:30 Uhr
Hat Glühbirne zu hoch gegamblet?
Nur hab ich das doch eh schon vor sechs Wochen oder so getan, und ich will mich ehrlich gesagt nicht wiederholen, so wie diese Geschichte selbst das andauernd tut.
Sie wird bloß Jahr für Jahr absurder, die als Souvenir aus den 1990ern herübergerettete alte Phantom-Angst vor dem Superstaat. Eh. Und Britpop ist auch voll im Kommen heuer, hab ich wo gehört.
Also, Glühbirne ist voll in Fahrt und hat sich vor zwei Tagen hemdsärmelig gemacht, um den Deal zu preisen, den er ausbaldowert hat mit dem Mann, bei dessen Namen die meisten Leute hier nur an ein Fleetwood Mac-Album denken bzw. – minus "u" – an die gängige Transkription des Geräusches, das man macht, wenn einem alles eher wurscht ist.
Hemdsärmelig also war er, aber mit Krawatte, damit die Blutzufuhr abgeschnitten bleibt und die Birne ordentlich blaurot glüht – das tat er auch im letzten Wahlkampf und im Jahr davor bei der Schottland-Abstimmung, aber erst in der allerletzten Phase.
Wenn Glühbirne also jetzt schon ablegt, bevor die Kampagne überhaupt losgegangen ist, dann lässt das Schlimmes befürchten.
Der "Wir packen's an"-Helm und Reflektorweste-Look kam auch zum Einsatz, denn Glühbirne war Dienstag wieder einmal im Siemens-Werk in Lincoln, unter Arbeitern. Ernüchternd übrigens die Voxpops, die das Fernsehteam der BBC nach Glühbirnes Brandrede dort zum Thema "rein oder raus" einsammelte: Bestenfalls unentschieden waren die Arbeiter, wenn nicht gleich offen für den Austritt.
Und hinter ihnen immer das "Siemens"-Logo.
Wenn nicht einmal Leute, die diesen Arbeitsplatz haben, verstehen, wozu es gut sein soll, in der EU zu bleiben, dann hat Birne nun wirklich ein Problem.
Und ich selber natürlich auch, jetzt einmal egoistisch gesagt.
Im Juni schon wollen sie nun schon abstimmen, und wissen noch gar nicht so recht worüber. Es könnte also alles sehr schnell vorbei sein.
Hier nur ein paar kleine Beobachtungen:
Wie wir ja immer schon vermutet haben ist das, wofür Glühbirne in Brüssel so viel Staub aufgewirbelt hat, in Wirklichkeit gar nichts wert.
Siehe die sogenannte "Notbremse", was Sozialhilfen für Berufstätige anlangt. Laut dem Guardian zugespielten Zahlen sind es nicht, wie Glühbirne einst behauptete, vierzig Prozent der EU-Einwander_innen, die "In Work-Benefits" beziehen, sondern insgesamt bloß 84.000 Familien.
Das ist im gesamtbritischen Kontext so gut wie gar nichts.
Noch lustiger die Zahlen, was das angebliche Problem des Exports britischer Kinderbeihilfe in andere EU-Staaten angeht. Zahlenallergiker_innen bitte für den Schnellvorlauf zur Schlussfolgerung drei Absätze überspringen.
Laut Zahlen der britischen Inland Revenue gibt es 20.000 Familien nichtbritischer EU_Bürgerinnen, die für insgesamt 34.000 im Ausland befindliche Kinder Beihilfen beziehen (das ist weniger als 1 Prozent). Zu insgesamt circa 30 Millionen Pfund.
Die ursprüngliche Forderung der Briten war, gar keine Kinderbeihilfe an Eltern nicht in Großbritannien befindlicher Kinder zu zahlen. Da das nicht ganz fair wäre (schließlich zahlen die Leute hier auch Steuer), ist der Kompromiss, einen aliquoten Anteil an Kinderbeihilfe, beruhend auf dem Einkommensdurchschnitt im Herkunftsland zu zahlen. Was im Falle osteuropäischer Länder eine empfindliche Reduktion, in anderen mit höherem Durchschnittseinkommen wie etwa Luxemburg aber eine Erhöhung der Kinderbeihilfe zur Folge hätte.
Laut einer Geschichte der BBC, die das offenbar durchgerechnet hat, würde so ein Schritt 99 Pence pro 350 Pfund ersparen, die der britische Staat für Kinderbeihilfe ausgibt.
Ich bin im Rechnen nicht gut, aber sagen wir der Einfachheit halber doch 0,28 Prozent.
Ich bezweifle das ja, schließlich gibt Großbritannien im Jahr 11 Milliarden für Kinderbeihilfe aus, und dieser Anteil entspricht laut meinen Milchmannrechnungen ziemlich genau den oben erwähnten 30 Millionen, also einem (schon aufgrund der daraus umgekehrt für in der EU arbeitende Brit_innen erwachsenden Konsequenzen) nicht denkbaren, völligen Entzug der Kinderbeihilfe für EU-Einwander_innen.
Aber, und das ist die Pointe, selbst dann wäre diese Ersparnis, wegen derer jetzt das wesentliche EU-Grundprinzip der Nichtdiskriminierung gegen Bürger_innen der Mitgliedsstaaten aufgehoben werden soll, tatsächlich völlig lachhaft.
Die doppelte Ironie ist bloß, dass jetzt, wo die britischen Medien das ENDLICH durchrechnen, als Schlussfolgerung nicht etwa die logische Erkenntnis hängen bleibt:
Nämlich dass das angebliche Problem der Belastung des Sozialbudgets durch EU-Einwander_innen von vornherein nicht existierte.
Stattdessen regt sich nun der Vorwurf, dass die vermeintliche Lösung des nicht-existenten Problems Großbritannien auch kein Geld bringt. Eigentlich ja klar, aber für blutdurstige Bulldoggen eben völlig unbefriedigend.
Richtig losgehen wird das Doggen-Geheul allerdings erst, sobald der Deal, den Glühbirne sich aushandelt, fertig verschnürt und ein Abstimmungsdatum verlautbart ist.
Ab da werden die Isolationist_innen unter den Tories die letzte Zurückhaltung fallen lassen. Man darf schließlich nicht vergessen, dass Glühbirne für diese Legislaturperiode seinen Abtritt als Premier versprochen hat. Wer sich jetzt mit der Anti-EU-Presse gut stellen will, weiß, was er oder sie zu tun hat, und Boris Johnson ist ja bereits ein bisschen vorgehüpft, indem er meinte, Glühbirne habe bei seinen Verhandlungen "the best of a bad job" herausgeholt.
Anders als 2014 in Schottland zeigt Jeremy Corbyns Labour Party auch nicht viel Lust, sich hinter Glühbirne zu stellen. Labour ist zwar für einen Verbleib bei der EU, aber die Abstimmung wird nicht zuletzt ein Votum über die Glaubhaftigkeit von Glühbirnes Deal sein. Und den wird Labour ganz sicher nicht verteidigen.
Es wird also nicht leicht für Birne, wie Polly Toynbee vom Guardian in ihrer heutigen Analyse der restlichen Presselandschaft eindringlich erklärt hat.
Die Referenzen auf den Zweiten Weltkrieg auf den Titelseiten der letzten zwei Tage lassen jedenfalls erahnen, was bis Juni auf uns zukommt.
Der gestrige Sun-Titel "Who do you think you are kidding, Mr Cameron?" war eine Abwandlung des Titelsongs der alten Fernseh-Comedy-Serie "Dad's Army", im Original "Who do you think you are kidding, Mr Hitler?", und der heutige Titel der Daily Mail "Who will speak for England?" ist nicht weniger als ein Zitat aus der Debatte über den Kriegseintritt Großbritanniens im Jahre 1939 (der konservative Premier Chamberlain zögerte, worauf der Tory-Abgeordnete Amery aus den eigenen Reihen den Labour-Führer Arthur Greenwood mit den Worten "Speak for England, Arthur!" aufforderte, gegen Chamberlain für eine Kriegserklärung – zu sprechen, was dieser auch tat).
Ein Verbleib in der EU wird also mit Appeasement gegenüber Hitler gleichgesetzt, das muss man sich einmal so richtig auf der Zunge zergehen lassen.
Wenn diese Botschaft beim Publikum ankommt, hat Glühbirne wirklich verloren, und ich bin ab Juni ein Alien hier.
Ich setze meine letzte Hoffnung ja in Jerry Hall, die soll ihrem Verlobten mit Kuschelboykott drohen, solange er seine Blätter all den europhoben Mist drucken lässt.
Der noch bessere Weg wäre ja, dass Glühbirne, der neulich erst die bibbernden Flüchtlinge auf Calais als "a bunch of migrants" bezeichnete, uns geschätzte 2,4 Millionen EU-Bürger_innen, die wir hier wohnen und Steuern zahlen, bei seinem Referendum doch noch mitstimmen lässt, wie es uns ja eigentlich zustünde.
Wer weiß, wenn er außer uns keine Freund_innen mehr findet...