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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

7. 1. 2016 - 20:14

Wer ist da radikal?

Mein 20. Jahr in diesem Land, heimgekehrt mit den Stiernacken, und finde vor: Das unauffällige Ende des britischen Council Estate, und die schon vier Monate vor der Londoner Bürgermeisterwahl gespielte "Rassenkarte".

Jetzt bin ich heuer also offiziell im 20. Jahr meines Aufenthalts in diesem Land (am 1. Jänner '97 kamen wir ohne Rückfahrkarte an). Schwer vorzustellen, dass dieser Umstand von Gesetzen abhängig ist, die sich demnächst ändern könnten, falls meine Mitbürger_innen hier bei der kommenden Abstimmung die Laune packen sollte, aber reden wir doch lieber übers Wetter.

Wie sich herumspricht, war es hier im Gegensatz zu Österreich über die Feiertage außergewöhnlich nass. Das wurde schon allein an der Scheibenwischerfrequenz messbar, als wir die Nacht durch jenseits der kontinentalen Wasserscheide und dann in Richtung Kanal fuhren.

Eine Fährenüberfahrt sagt einem ja so einiges über dieses Land, das man sich irgendwann einmal ausgesucht hat. Sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückfahrt waren wir Teil einer zentral- bis osteuropäischen Weihnachtspendlerpartie, die nun nach Abhalten regionaler Brauchtümer in den jeweiligen Geburtsheimaten mit reichlich Würsten im Gepäck wieder in die Wahlheimat zurückgekehrt ist.

Ein großer Teil der stiernackigen Männer mit Bürstenhaarschnitt, die da in ihren britischen Gebrauchtwägen in den letzten Tagen Europa durchquert haben, pflückt den Rest des Jahres über in England das Obst oder baut die Häuser.

Hunderttausende solcher Häuser sollen demnächst in die Landschaft gestellt werden, wenn es nach der Regierung geht, die privaten Bauherren derzeit die Baubewilligungen und Baugründe nur so in den Rachen schiebt, um die Konjunktur anzukurbeln und dringend nötigen neuen Wohnraum für die vermögende Middle Class zu schaffen (Sozialbauten werden aus ideologischen Gründen keine gebaut, wie übrigens auch schon unter der letzten Labour-Regierung nicht. Ein Abgesang auf die von dieser Regierung mit neuen Gesetzen endgültig demontierte britische Institution des Council Estate lässt sich hier bei John Harris nachlesen, eine genauere Analyse folgt am Ende dieses zugegebenermaßen etwas mäandernden Blogs).

Nasse Blätter

Robert Rotifer

Farmer says: Wenn alle Blätter der Hecke klitschnass sind...

Ohne die EU-Aufenthaltsfreiheit, die sie wegwollen, bzw. die stiernackigen Männer mit den Bürstenhaarschnitten wäre all das, was die vorhaben, heutzutage jedenfalls sicher nicht möglich, da es hier einerseits nicht genug qualifizierte Bauarbeiter_innen und andererseits auch nicht genug Leute gibt, die auf Obstfarmen in halb verrotteten Wohnwägen wohnen würden (an einer dieser improvisierten Arbeitersiedlungen radle ich manchmal bei Ausflügen vorbei, Bilder ihres unbeschreiblichen Inneren sah ich neulich in den Fernsehnachrichten und fühlte mich dabei gar nicht nach Apfel oder Birne).

Durchnässter Baumstumpf

Robert Rotifer

...und der Baumpstumpf an der Mauer vor lauter Regenwasser ganz schwarz, dann ist es very wet indeed.

Ich, der ich mir meinen Job aus Österreich mitnahm, musste mich ja nie zu sowas erniedrigen, aber ich frage mich manchmal, was diese Einwander_innen von diesem Land halten, wo sie zwar mehr verdienen als zu Hause, aber buchstäblich wie der letzte Dreck behandelt werden. Mir fällt jedenfalls auf, dass sie auf der Fähre lieber schweigend herumsitzen, als das mit Schulkantinen-Charme verabreichte englische Frühstücksangebot wahrzunehmen (ihr Verlust).

Aber ich wollte ja vom Wetter reden hier: Ich kam also zurück in ein Land, dessen nördliche Hälfte immer noch zu einem guten Teil überflutet ist, auch wenn es den Medien unten in London schon merklich zu fad ist, darüber zu berichten.

Es sei denn, es handelt sich um eine 450 Jahre alte Burg wie die des 21. Barons von Abergeldie, eines Freunds und Nachbarn der Königin, wenn sie auf ihrem schottischen Anwesen Balmoral weilt.

Dann wird alles getan, um das vom sein Bett sprengenden River Dee in seinen Grundfesten bedrohte Anwesen zu retten.

Ist ja auch wirklich schlimm, wenn so eine Burg einfach ins Wasser fällt. Aber die Symbolik zu sehen, wie hier mit großem Aufwand um das Überleben eines Herrschaftssitzes gekämpft wird, während in Städten wie Leeds oder York ganze Viertel versinken und die Regierung gleichzeitig die Investitionen in Hochwasserschutz kürzt, stößt einem halt unangenehm auf, wenn man gerade noch frisch im Kulturschockmodus der Rückkehr vom Wien-Urlaub verfangen ist.

An sich ist die Ungleichheit in Großbritannien ja derart Cartoon-mäßig grotesk, dass es für hier Wohnende irgendwie peinlich ist, noch eigens darauf hinzuweisen.

Ein Beispiel: Schon diesen Dienstag, an ihrem zweiten Arbeitstag des Jahres, auch Fat Cat Tuesday genannt, hatten die CEOs der Top 100 Konzerne auf dem FTSE-Börsenindex heuer so viel verdient wie der/die Durchschnittseinkommensbezieher_in im ganzen Jahr (dieser Link absichtlich zum des Klassenkampfs – jedenfalls in Richtung von unten nach oben – gänzlich unverdächtigen Daily Telegraph).

Ja mehr noch: wenn Einkommensunterschiede einmal derart absurd groß sind, kann man sich auch vorstellen, wie sehr bloß eine_r von diesen CEOs allein die Höhe dieses Durchschnitts nach oben hin verzerrt.

Also, auf ein zwanzigstes, bzw. mein 16. Jahr bei diesem Blog, und was das Land der gesalzenen Butter so anspülen wird.

Die dominante Geschichte des Frühlings wird ja mit ziemlicher Sicherheit die Londoner Bürgermeisterwahl, bei der - nach dem Ausscheiden des nun offen auf den Top Job schielenden Boris Johnson - mit Zac Goldsmith der Sohn eines Multimilliardärs gegen Sadiq Khan, den Sohn eines Busfahrers, antreten wird.

Okay, wer woher kommt, sollte eigentlich egal sein, aber ich fürchte, daran kommen wir nicht mehr vorbei, seit Zac Goldsmiths Team ein Flugblatt verteilt hat, auf dem Sadiq Khan als "radical and divisive" (radikal und entzweiend) bezeichnet wurde.

Khan antwortete darauf so: "Jemand radikal und entzweiend zu nennen, da muss man sehr vorsichtig sein. Das bedeutet, mit dem Feuer zu spielen. Wenn man sowas über jemand sagt, der moslemischen Glaubens ist, worauf soll das anspielen? Wenn man sowas macht, wird einen das am Ende in den Hintern beißen."

So, und jetzt hätte man drüber diskutieren können, ob er recht hat oder selber bloß Hyperkritik übt.

Ich will ehrlich sein: Als ich das Zitat aus dem Flugblatt zum ersten Mal hörte, dachte ich an genau denselben islamophoben Subtext. Weil nämlich Sadiq Khan als Politiker so offensichtlich alles andere als radikal ist: Ein Sozialdemokrat der philanthropischen Art, der sich bei jeder Gelegenheit fast schon zwanghaft als "pro business" bezeichnet und immer gern auf die Erfolgsgeschichte seiner Einwandererfamilie zurückkommt (erst Busfahren, dann ein Geschäft gründen, Sohn an die Uni schicken, Sohn wird Anwalt, wird Politiker, schafft es bis ganz nach oben).

Mit anderen Worten: Khan verkörpert den Glauben an den alten postkolonialen britischen Traum der Integration, Assimilation und Aspiration. Das einzige, was an ihm radikal ist, ist die schiere Möglichkeit, dass ein Moslem Londoner Bürgermeister werden könnte.

Natürlich will Zac Goldsmith das überhaupt nicht so sehen. Khan sei eben Teil von Jeremy Corbyns Labour Party, die nun einmal eine neuerdings radikale sei. Dass das irgendwer anders auslegen könnte, sei für ihn "deprimierend". Ja, Goldsmith ging so gar so weit zu sagen, Khan "has played the race card", indem er sich über das Flugblatt beschwerte.

"Die Rassenkarte spielen", das heißt in der politischen Parlance Großbritanniens, an rassistische Instinkte zu appellieren. Und ich fürchte, Goldsmiths Umkehr dieses Vorwurfs gegen Khan zeugt von einer bedenklich paranoiden Weltsicht, derzufolge Londoner_innen vor lauter offensiver Bejahung des Multikulti-Kandidaten und hysterisch überzogener politischer Korrektheit den privilegierten weißen Kandidaten extra nicht wählen würden.

Unbeteiligte Beobachter_innen des von den privilegierten Indigenen David Cameron bzw. Boris Johnson regierten Großbritannien bzw. London würden wohl zum Schluss kommen, dass solche Befürchtungen nicht unbedingt angebracht sind.

Natürlich weiß Goldsmith das selber sehr genau, was aber tatsächlich in seiner Empörung mitschwingt, sind die von Konservativen und UKIP regelmäßig gegen Labour vorgebrachten Vorwürfe der Korruption in Wahlkreisen mit dominant moslemischer Bevölkerung.

Khan, suggeriert Goldsmith, spekuliert mit seinem Monopol auf die geballte Macht der Minderheiten.

So paranoid und ahnungslos diese Weltsicht des von einer Zusammenrottung aller Fremden belagerten Einheimischen sein mag (tatsächlich bestehen mindestens genauso große gegenseitige Vorurteile zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten, wie alle Bewohner_innen durchmischter Gegenden Londons wissen), ist sie doch gleichzeitig bezeichnend für das Seelenbild einer Stadt, die sich in immer schärferen Widersprüchen zerreißt, zwischen jenen, die von ihrem explodierenden immobilen Vermögen profitieren und jenen, die täglich darum kämpfen, ihr Dach über dem Kopf zu behalten.

Da spielt Sadiq Khans irre radikaler Vorschlag, beim Umsteigen von einem Londoner Bus in den anderen künftig nicht eine neue Fahrt zu verrechnen, vermutlich eine wesentlich größere Rolle als seine Religion. Wenn er denn schafft, das auch in den Medien zu kommunizieren.

Denn der publizierte Narrativ einer gefährlich radikalen Labour Party, den Zac Goldsmith in seiner Rechtfertigung zitiert, so als wäre er unbestreitbarer Fakt, stützt sich auf einen eigentlich immer extremeren Begriff von Normalität, in dessen Windschatten wahrhaft Radikales geschieht.

"Saturday's Kids live in council houses / Wear V-necked shirts and baggy trousers" (The Jam, 1979)

Bald nicht mehr.

Was gäbe es Radikaleres im Land der Council Estates, in dem nach der systematischen Veräußerung des sozialen Wohnbaus seit Thatcher nur mehr 8 Prozent (statt 42 Prozent Anfang der 1990er) in Gemeindewohnungen leben, als die "secure tenancies", die sichere Unterbringungsgarantie abzuschaffen?

Was Umwälzenderes als Leuten, die knapp über dem Durchschnitt verdienen, plötzlich den völlig unerreichbaren Marktwert ihrer Gemeindewohnungen an Miete zu verrechnen ("pay to stay"), oder Gemeinden zu zwingen, "hochwertige" Häuser zu verkaufen?

Was Extremeres als Jahrhunderte alten Genossenschaften (den Housing Associations) die Zwangsprivatisierung ihrer Immobilien zu verordnen, während gleichzeitig rund 27 Milliarden an öffentlichen Geldern dafür locker gemacht werden, Startwohnungen zu subventionieren, die zu höhnisch "erschwinglich" ("affordable") genannten 80 Prozent des Marktpreises verscherbelt werden sollen?

Die Veränderungen, die London durch dieses Gesetz erleben wird, werden die radikalsten und entzweiendsten seit dem Zweiten Weltkrieg sein.

Sadiq Khan ist in einem Council Estate aufgewachsen. Hätte es die damals nicht gegeben, wäre er heute vermutlich kein Londoner, so wie all die, die jetzt zu mir hinaus in Richtung Ramsgate oder Margate flüchten. Eh auch gut, aber London ist mit all seinem Reichtum bereits an Leben ärmer geworden, und es wird nun noch viel schneller noch viel ärmer werden.

Statt sich also allzu lange mit Zac Goldsmiths Sprache aufzuhalten und sich gleichzeitig (immer noch) selbst zu zerfleischen, sollte Labour vielleicht einmal versuchen, das den Londoner_innen klarzumachen. Am besten noch vor der Bürgermeister-Wahl.