Erstellt am: 17. 11. 2014 - 01:53 Uhr
Return to the Land of Promise
Vielleicht ist die zunehmend pathologische, britische Europhobie mit schuld dran, aber sicher nicht ganz.
Ich hab mir jedenfalls das komische, von meiner Position am südöstlichen Ende Englands aus relativ leicht zu betreibende Hobby angeeignet, von Zeit zu Zeit mit dem Tunnelzug in die Domäne des Dämons, den Hort des Bösen, die Grotte der bête noire, in anderen Worten nach Brüssel zu fahren.
Brüssel hat ja im Vergleich zu Paris oder Wien, ja sogar zu London – nebst so Dingen wie herrlichen Galerien und großartigem Essen, die in sinnlos sarkastischen Intros wie diesem keinen Platz finden dürfen – zwischen seinen paar Prestigefassaden auch genug subromantischen Verfall zu bieten, um sein Tourist_innenaufkommen – abgesehen von den Pfadfinder_innenhorden auf der Grand Place – in angenehmen Grenzen zu halten.
Man geht zweimal ums Eck, und schon steht man mitten in einer dystopischen Büroruinenlandschaft, oder man steigt in die U-Bahn und erkundet in nur ein paar Stationen die streng nach Hautfarbe analog zum Durchschnittsvermögen getrennte Schein-Multikulturalität dieser postkolonialen Gesellschaft.
Letztes Wochenende – und ich hätte das hier weit früher erzählt, wenn nicht ein kolossaler Schnupfen dazwischen gekommen wäre, der genau genommen immer noch in mir verharrt – tat ich genau Letzteres, und zwar als Teil der touristischst-möglichsten Mission, die in dieser Stadt abseits des Freiluft-Frittenverzehrs und des Ankaufs einer urinierenden Statuette möglich ist: Mit der 6er-Metro von Midi zum Expogelände in Heysel fahren, um sich das Atomium anzusehen.

Robert Rotifer
Der Plan war ja eigentlich nur ein bisschen Retro-Futurismus-Kick zu konsumieren, aber dann kamen wieder ganz andere Assoziationen dazwischen. Es war nämlich erst eine Woche her, seit sich ein Fluggerät von Virgin Galactic in der dünnen Luft zerlegt hatte, und das Atomium, wenn es auch direkt nichts mit Weltraumfahrt zu tun hat, gehört in genau jenen Kosmos der unbegrenzten Möglichkeiten.
Schließlich wurde es 1958 zur großen modernistischen Weltausstellung gebaut, als das Space Race des kalten Krieges in vollem Gange war: ein Jahr nach Laika, drei Jahre vor Gagarin, elf Jahre vor der Mondlandung. Die scheinbare Schwerelosigkeit des Bauwerks symbolisierte also das Versprechen der Zukunft.
In den untersten zwei schwebenden Petanque-Kugeln (ihre oberste ist einem Restaurant und einem Panoramablick gewidmet, die nächstoberen temporären Exponaten) ist eine Dauerausstellung über dieses Großereignis vor 56 Jahren zu sehen, an der mir als Besucher im bereits etwas angeschrammten 21. Jahrhundert drei Dinge ins Auge stachen:
Erstens einmal der raketenförmige Plattenspieler.
Ich will den raketenförmigen Plattenspieler.

Robert Rotifer
Zweitens die Slideshow der nationalen Pavillons samt der Erkenntnis, dass die damals vorherrschende, nach satten Honoraren für Designer mit Seidenschals riechende, großzügige Glaskasten-Architektur immer noch ziemlich zeitgemäß ausschaut.

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Und drittens die Abwesenheit jeglicher Logos. Egal ob kapitalistischer Westen, ferner Osten oder Ostblock, auf den Fotos der Pavillons waren weder außen noch innen die kommerziellen Insignien der jeweiligen Industrien zu sehen. Die großen Schriftzüge schienen ausschließlich die ausstellenden Länder zu bezeichnen, nicht einmal Le Corbusiers Philips-Pavillon hatte ein Firmen-Logo drauf.

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Nun bin ich ja kein natürlicher Freund nationaler Identitätsdemonstrationen, und noch weniger will ich die Fifties romantisieren (wo wir schon dabei sind und ich gerade den ziemlich großartigen Cumberbatch-Film "The Imitation Game" frisch im Kopf hab: 1958 ist auch bloß vier Jahre nach dem Selbstmord von Alan Turing infolge seiner staatlich verordneten chemischen Kastration zur "Heilung" seiner Homosexualität).
Aber was aus diesen Brüsseler Bildern spricht, ist – unabhängig vom repräsentierten System – der Nachkriegskonsens der gemeinsamen gesellschaftlichen Errungenschaft.

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Man sieht diese Leute auf den Fotos in ihren Hüten und schweren Mänteln ganz schwindlig vor lauter Zukunft zwischen den futuristischen Pavillons umher stolpern wie anachronistische Aliens aus einer fernen Vergangenheit, katapultiert in eine Welt, die eigentlich gerade erst aus dem letzten Krieg herausgekommen ist und angesichts der noch rauchenden Trümmerhaufen gar keine andere Wahl hat, als alle ihre Ideen in den zivilisatorischen Fortschritt zu investieren.

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Sicher, auch dieser Weltausstellungs-Klimbim ist eindeutig Ausdruck von Konkurrenz, aber wenigstens einer ideologisch befeuerten Konkurrenz zwischen Gesellschaftsmodellen, von demokratisch bis tyrannisch, nicht bloß eines ideell völlig bedeutungslosen Wettrennens zwischen Tablet-Marken und Kommunikationskonzernen.
Und in sich bargen diese Modelle immerhin jeweils ein kollektives Selbstverständnis. Wenn sie zum Mond fliegen wollten, dann nicht zur Selbstverwirklichung, sondern indem sie ein Team stellvertretend für ihre Seite losschickten.

Henri Cartier-Bresson
Man braucht sich beim Vergleich mit der Gegenwart gar nicht erst mit dem beschämenden Kontrast aufzuhalten, dass Virgin Galactic nicht dem Fortschritt der Menschheit, sondern dem persönlichen Vergnügen superreicher Zeitverschwender dient, die mit mehr als einem halben Jahrhundert Verspätung auch ein bisschen Gagarin spielen wollen. Die neoliberale Orthodoxie glaubt schließlich fest an den Eigennutz als ultimativer Raketenantrieb.
Nichtsdestotrotz ist das erbärmliche Verenden des Weltraumzeitalters in umgekehrtem Verhältnis zum Triumph des Neoliberalismus seit Ende der 1970er mit dem ihn begleitenden, ewigen Mantra des staatlichen Gürtelengerschnallens wohl einer der anschaulichsten Belege für die tatsächliche Ineffizienz dieses im Geiste geizigsten, im Endeffekt aber verschwenderischsten Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells.
Fragmentierte Eigeninteressen schaffen weder die Mittel noch die Motivation zur Verwirklichung großer Ideen, geschweige denn der dafür nötigen Infrastruktur, siehe als klassisches Beispiel das blödsinnige parallele Wuchern hoffnungslos inadäquater Handy-Netze.
Wer wissen will, warum die Menschheit statt den Sternen nur dem Ruin entgegen trudelt, braucht sich bloß Virgin-Boss Richard Bransons eigene Aussagen in einem Interview mit Channel Four News am 3. November, dem Montagabend nach eingangs erwähntem Unglück anzuhören.

Channel Four
Seine Entrüstung über die eh harmlosen Fragen von Moderator Jon Snow schien schon einigermaßen aufgesetzt.
„Normalerweise hab ich enormen Respekt vor Ihnen“, schnaubte Branson, „Aber ich habe überhaupt keinen Respekt davor, wie Sie dieses Interview führen.“
Beleidigtheit ist eine klassische Branson-Reaktion, wann immer ihm der Wind ins Gesicht bläst (und seiner Frisur nach zu urteilen, passiert das nicht selten).
„Wir werden unsere Bücher nicht vor unseren Rivalen öffnen“, sagte Branson dann zu Snow und prahlte, dass angeblich 400 der besten Raumfahrtingenieur_innen für ihn arbeiten. „Da gibt es uns und SpaceX (die Firma von Paypal-Gründer Elon Musk, Anm.) und Jeff Bezos (von Amazon, Anm.), also einige Leute, die Menschen ins All schicken wollen, und die meisten vernünftigen Kommentatoren meinen, dass wir in diesem Feld die Herde anführen.“
Ich musste dabei an David Runcimans Rezension des Buchs „Branson: Behind The Mask“ von Tom Bower im London Review of Books vom März dieses Jahres denken, die jenen Mann, dem wir Tubular Bells, die Sex Pistols und eine der in Sachen Verspätungen und Preispolitik berüchtigtsten britischen Bahnfirmen verdanken, gründlich entmystifiziert (mit dem Vorteil zum zugehörigen Buch, dass man sich bei seiner Lektüre für eine tolerable Dauer in Bransons Gegenwart aufhält).
Die letzten beiden Absätze dieses hochinteressanten Texts beschäftigten sich mit Virgin Galactic als Bransons heroischer Ablenkungsstrategie einer sich von einem Desaster ins nächste stürzenden Marke. Virgin selbst wird als das substanzlose Vehikel eines narzisstischen Welterretters geschildert, der sich aufs Absahnen staatlicher Subventionen versteht (darunter, wie man liest, jenseits der 200 Millionen Dollar für Virgin Galactic vom Staate New Mexico), während er lauthals den freien Markt predigt.
Auch hier wieder.
Und die Praxis sieht denkbar hässlich aus.
Gibt's denn viel Verwerflicheres, als ein Gesellschaftsmodell, das lieber Menschen in der Luft zerreißt, als sich von seinen Konkurrenten „in die Bücher schauen“ zu lassen? Ist das nicht genau die Sorte von Dummheit, die das Ende des kalten Krieges abzuschaffen vorgegeben hatte, bloß noch um ein paar Potenzen kleinhäuslerischer?

Robert Rotifer
Vor einer Woche also bin ich mit dem Atomium im Kopf aus Brüssel zurückgekommen und wollte das hier schreiben, und mitten durch meinen Verkühlungsdusel flogen dann Rosetta bzw. Philae als wunderbarer Kontrapunkt zum Bransonschen Absturz zielgenau auf den Kometen drauf.
Und die britischen Medien konnten gar nicht anders als was Positives zu einer europäischen Sache zu sagen, bei der es zur Abwechslung einmal nicht um konkurrierende Steueroasen, um die Sado-Maso-Rituale des Austeritätswahns, den endlos schwachsinnigen Schwanzvergleich des Wachstumsprinzips oder nationale Chauvinismen als Rückendeckung für eine Kapitulation vor dem Internationalismus der Konzerne (genannt TTIP) ging, sondern um so retro-futuristische Atomium-Style-Vintage-Vokabel wie "offene internationale Zusammenarbeit" und "wissenschaftliche Erkenntnisse im Dienst der Allgemeinheit."

BFI/Paul Rotha/Otto Neurath
Und dann, am Donnerstagabend, kam auch noch Günther Sandner mit seiner Otto Neurath-Biographie ins Austrian Cultural Forum nach London (ich war die schnüffelnde Kreatur in der vierten Reihe). Er zeigte dort unter anderem die letzten zehn Minuten von Paul Rothas nach Kriegsende entstandenem Film "Land of Promise", in dem die Isotype-Bildstatistiken des nach Großbritannien emigrierten Neurath eine große Rolle spielten.

BFI/Paul Rotha/Otto Neurath
Ein vom Idealismus des Moments beflügeltes Plädoyer für ein der Allgemeinheit dienendes System samt so feierlichen Feststellungen wie jener, dass das Messen des Wertes von Menschenleben in Geldbeträgen nun, bei Anbruch der neuen Welt, endgültig eine Sache der Vergangenheit sei.
Sehr tragisch irgendwie, aber auch inspirierend und aktuell anwendbar, weil eben sehr viel näher zu Rosetta als zu Branson und irgendwie auch passenderweise nicht auf Yout*be zu sehen (aber dafür beim British Film Institute).
Sandners Neurath-Buch liegt nun neben dem Bett, das Lesezeichen wandert zwischen den Schwindelanfällen von der Vorder- in Richtung Hinterklappe.

BFI/Paul Rotha/Otto Neurath
Und ich will das hier alles loswerden, bevor ich mich völlig von der Ernüchterung meiner Gesundung bremsen lasse und die Logik, in der das alles in meinem weichgerotzten Schädel so herrlich zusammenpasst, wieder verschwunden sein wird.
Inzwischen mag die Batterie auf dem Kometen ausgegangen und mein Fieber gesunken sein, aber, wie schon die andere große Rosetta sang, über meinem Kopf ist Musik in der Luft. Kann ja schließlich nicht sein, dass wir ewig denselben Schmarrn vom Blatt singen, bis es morgen wieder kracht.