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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

12. 10. 2014 - 06:00

Der Turnbeutel

Oh Gott, er ist zurück.

Auch wer sich nicht für Mode interessiert, kommt in Berlin nicht umhin, sich immer wieder über die seltsamen Gepflogenheiten der Stadtbewohner, was die Wahl ihrer Kleidung und Zubehörteile angeht, zu wundern.

An den Jutebeutel, früher lediglich als unverzichtbares Öko-Must-Have beim Biomarkteinkauf bekannt, hat man sich gewöhnt. Er gilt längst als „Hipster- Accessoire“, genauso wie die Hornbrille, die goldenen Leggings ,der neonfarbene Turnschuhe, das ganze Neunziger-Revival halt. Nun gibt es allerdings schon seit einiger Zeit einen neuen Trend, der auch die erprobte und abgehärtete Modeopferbeobachterin hilflos zurück lässt. Es ist: Der Turnbeutel.

Turnbeutel

sanzibell.com

Er hat den Jutesack abgelöst, man und frau trägt ihn nicht locker über einer Schulter, das wäre ein schlimmer Fauxpas, sondern wie in der Grundschule, mit je einem Schnürchen über den Oberarm, als Rucksack. Wer aus seinen Grundschulzeiten nicht mehr weiß, was ein Turnbeutel ist, dem wird bei Wikipedia geholfen:

Ein Turnbeutel ist ein Beutel, der zum Transport von Turnschuhen, Turnhose und -hemd sowie Trainingsanzug dient. Er ist überwiegend aus Stoff und wird meistens mit einer Zugschnur verschlossen. Er wird vor allem von Kindergartenkindern und jüngeren Schülern an Tagen mit Sportunterricht ergänzend zum Schulranzen getragen. Zwischenzeitlich ist der Turnbeutel weitgehend von der geräumigeren Sporttasche verdrängt worden, die für Sportutensilien und Pflegemittel mehr Platz bietet. In der Schweiz wird der Turnbeutel auch als Turnsack bezeichnet. Der Begriff des Turnbeutels taucht Mitte der 1950er Jahre in der deutschen Sprache auf.[ In den Lehrplänen wurde festgelegt, dass als Teil der „Einhaltung der Grundregeln der Hygiene“ außer auf Körperreinigung und Reinhaltung von Übungsstätten auf „saubere Turnkleidung und Turnbeutel“ zu achten sei.[4] Im Jahr 2010 erlebte der Turnbeutel einen Modetrend als Lifestyle-Utensil der Kreativbranche.

Seit 2010 also schon!!! Aber schon vor 2010 war im Lifestyle- und Frischzugezogenenbezirk Neukölln ein allgemeiner Trend zur Rückkehr in die Kindheit zu beobachten. In den Restaurants hat das abgegriffene Schulheft die Speisekarte ersetzt, in kindlicher Krakelschönschrift werden Kindheitsgerichte wie Grießbrei mit Kirschen und Pfannkuchen mit Zimt angeboten. Dabei geht man äußerst postmodern mit den verschiedenen Kindheitsmoden um. Da werden niedliche Möbel aus den fünfziger Jahren im Shabby-Look mit dem immer noch hochbeliebten schwedischen Pippi- Langstrumpf- Style kombiniert und die vielen Expats haben ihre farbenfrohen Cupcakes mitgebracht - denn das Leben soll ein einziger Kindergeburtstag mit bunten, süßen Kuchen sein. Cupcakeification eben. Wobei das natürlich kein genuines Neuköllner Problem ist. Der Trend zur Verniedlichung, zur Verzierung mit Schleifchen und Häschen, die niedlichen Comicfiguren, der Niedlichkeitsfanatismus, ist ja ein globaler.

Aber wie in aller Welt kommt man darauf, seine Habseligkeiten in einem Turnbeutel für Grundschüler herumzutragen? Lässt sich diese Verirrung einfach küchenpsychologisch mit dem Angst vor dem Erwachsenwerden der Generation Y und ihrem Rückzug in Spielwelten erklären?
Aber warum machen sich dann andererseits immer mehr junge Frauen Oma-Frisuren mit albernen Dutts und Haarkränzen und warum ziehen junge Männer vermehrt Opaklamotten, - Wolljoppe zu grüner Cordhose- an? Liegt gleichzeitig Infantilisierung und Geriartrisierung der Mode vor? Es ist ein zu weites Feld, bleiben wir beim Turnbeutel.

Hat man ihn einmal entdeckt, sieht man ihn immer wieder. Der Turnbeutel ist in Berlin inzwischen so beliebt, dass sich sogar ein Elektro-Label nach ihm benannt hat. Forscht man über dieses Phänomen weiter, bekommt man überraschende Antworten, so heißt es in einem Modeblog:

Großer Pluspunkt dieser Beutel ist für mich, dass sie sich besser tragen lassen als die Jutebeutel, noch mal ein wenig lässiger wirken und das beste zum Schluss... Es ist einfach eine Kindheitserinnerung! Zwar hat man früher tatsächlich seine Sportsachen drin transportiert, aber warum nicht mal zum täglichen Basic machen (von hier)?

ponchoträger

mantalk

Eine Kindheitserinnerung, ja- aber eine schreckliche doch! Es ist doch die Erinnerung an ein Trauma! Sind denn diese modernen Turnbeutelträger alle unsympathische Streber und Sportskanonen, kennen sie nicht, wie jeder anständige, feine Mensch, die frühkindlichen wöchentlichen Demütigungen in dieser superhierarchischen Folterstunde namens „Turnen“ oder „Sport“?

Wissen sie nicht, wie es ist, die Wahl der Völkerballmannschaft immer als Letzte auf der Bank zu verfolgen? Kennen sie nicht das immer wieder hilflose Anrennen und Draufknallen an Pferd, Bock, Kasten und anderen Foltergeräten? Die historisch schlechten Laufzeiten bei den Bundesjugendspielen, die den Sportlehrer dazu nötigten, die vorgedruckte Zeit- und Punktetabelle nach unten handschriftlich zu erweitern? Wer will denn daran erinnert werden? Und was ist mit dem Schmähwort vom „Turnbeutelvergesser“, das doch wie der „Schattenparker“ oder „Warmduscher“ Synonym für ein „Weichei“, aber auch für „verweichlichten Mann“ steht und eigentlich so wieder zum Ehrentitel wurde?

Und wie wird das alles enden mit den Hipstern in Neukölln und anderswo? Werden der Brustbeutel und die an einer Kordel um den Hals getragene Plastiktrinkflasche ein Comeback feiern? Wird man sich künftig beim Ausgehen im Stuhlkreis zusammensetzen, ein Lied singen und über die Erlebnisse des vergangenen Tages berichten?

Übrigens: Für den Winter 2014/15 heißt der neueste Chic „Männerstrick“!