Erstellt am: 7. 3. 2014 - 18:47 Uhr
Maus auf Linoleum
Dieser erste Satz klingt wenn schon nicht bescheuert dann zumindest unrealistisch: Ich war vor einer Woche bei einem radikalen Rockkonzert. "Hör auf!" Aber ja. "Geh bitte."
Ich brauche wohl nicht zu erklären, dass "radikal" in meinem Fall nicht Noisecore und Theaterblut bedeutet, sondern eher das Gegenteil, und ich weiß, dass Leute wie Young Marble Giants oder die Marine Girls schon Anfang der 1980er den Weg der Reduktion und Leisestärke gegangen sind. Aber selbst wenn ich damals nicht dabei war, traue ich mich zu wetten, dass sie diesen Weg nicht so weit gingen wie Freitag Nacht in Ramsgate Stanley Brinks & The Wave Pictures.
Kurz einmal ein bisschen ausgeholt: Wann immer ich eine Band soundchecken und dabei elends lang herumscheißen und am Monitorsound hadern sehe, muss ich an einen Abend vor schätzungsweise 13, 14 Jahren denken, als ich gemeinsam mit meinen Freund Alex L in einem Pub in London die Vorband für Herman Düne gab, von denen man damals gerade erst ein bisschen zu hören begonnen hatte. Zu jener Zeit waren Mobiltelefone noch nicht wirklich selbstverständlich und zu Beginn des Abends wusste niemand, ob die Band eigentlich erscheinen würde. Beim Soundcheck glänzten sie durch Abwesenheit.
Ich hatte nach unserem Set gerade meine Sachen zusammengepackt, als diese groß gewachsenen, schlaksigen Typen mit ihren Instrumentekoffern zur Tür hereingeschlurft kamen, sich stoisch durch das Publikum schlängelten und begannen, ziemlich kleine Verstärker aufzustellen. Einer, er hatte schütteres Haar und trug einen, damals noch nicht hipster-konnotierten Vollbart, holte eine uralte Silvertone-Gitarre aus seinem Koffer, steckte das Kabel ein und fing an zu spielen.
Takt um Takt stellte sich heraus, dass er dabei nicht einfach herumprobierte, um seinen Sound zu finden, sondern dass das schon der Anfang des Konzerts war, denn der Schlagzeuger, der eigentlich noch dabei war, sein Rhythmusbesteck anzuordnen, spielte schon mit, während er mit der anderen Hand noch da ein Becken und dort eine Trommel anschraubte. Am anderen Ende des Raums hörte man eine Posaune spielen und der dünne Typ, der sie blies und ansonsten genauso aussah wie der mit der Gitarre, ging sehr gemächlich durchs Publikum bis vor zum Rest der Band, die in der Zwischenzeit die Backline fertig aufgebaut hatte. Dazu wurde dann auch gesungen, im Vertrauen darauf, dass der Techniker irgendwann die Mikros aufdrehen würde, aber das schien gar nicht so wichtig. Es ging genauso gut auch ohne.
Ganz offensichtlich hatten diese Leute das schon öfter gemacht, aber ich für meinen Teil hatte sowas noch nie gesehen. Der Sound, der da vor unseren Augen entstand, war ziemlich leise aber völlig stimmig und zutiefst musikalisch. Eine Band als Instrument, Musiker, die aufeinander hörten und sich in ihrer Lautstärke aneinander orientierten statt einander zu übertönen, das schien wie das natürlichste Welt, war aber das genaue Gegenteil des eingebürgerten Rockkonzert-Rituals der dunklen Bühne, über die schwarz gekleidete Gestalten mit Taschenlampe im Mund huschen und wie die bedauernswertesten Zwangsneurotiker_innen andauernd dieselben Gitarren stimmen und Mikros checken.
Ich will nun gar keine Worte darüber verlieren, warum André Herman Düne und sein Bruder David ein paar Jahre nach jenem denkwürdigen Konzert auseinander gingen, aber während ich Davids Inkarnation von Herman Dune seither als eine fabelhafte Party-Band erlebt habe, die immerhin Lautstärkebeschwerden vonseiten der Bregenzer Festspiele verursachte (gut, sie spielten auch in einem Zelt am See, wo die Klangwellen weiter reisen), hat André sich inzwischen in Stanley Brinks umbenannt und folgt puristisch seinem ursprünglichen Konzept.
Die Wave Pictures (über die ich hier schon einmal geschrieben hab und anderswo sicher auch) wiederum waren immer schon Fans von Herman Düne, sie sind gewissermaßen ihre flügge gewordenen Schüler. Wenn zum Beispiel ihr Gitarrist und Hauptsänger Dave Tattersall sich in seinen Texten von anderen Leuten, die darin vorkommen, als "David" ansprechen lässt, dann ist das eine Referenz auf Herman Düne, die Jonathan Richman referenzieren, der Fifties-Songs referenziert. Soviel ich weiß verstehen sich die Wave Pictures mit David genauso gut wie mit André, aber mit jenem, also Stanley Brinks, nehmen sie auch hin und wieder Platten auf.
Letztes Jahr zum Beispiel trafen sie sich zu diesem Zweck in den Londoner Soup Studios und bastelten innerhalb eines einzigen Tags ein Album von Songs mit Titeln wie "Blues About Krishna's Latest Avatar" oder "Max in the Elevator". Die Wave Pictures hatten jene bis zum Treffen im Studio noch nicht einmal gehört, da Stanley Brinks vergessen hatte, auf den Umschlag mit dem Demo-Tape, das er ihnen aus seiner derzeitigen Heimatstadt Berlin schicken wollte, eine Marke drauf zu kleben (wahrscheinlich war's ihm bloß zu teuer).
Das Unterfangen sollte trotzdem nicht scheitern, denn erstens haben Stanley Brinks' Songs zumeist nicht mehr als zwei bis drei Akkorde (gerne Moll), und zweitens reden wir hier von den Wave Pictures. Die sind, wie alle wissen, die sie je erlebt haben, obszön talentiert bzw. aus oben beschriebenen Gründen der Liederkunst des Stanley Brinks innerlich nahe. Ergo haben wir heute das Album Gin als Dokument dieses Aufnahmetags vorliegen, das sie derzeit bei einer Tour durch die britischen Inseln live vorstellen. So eben auch am Freitag in der Hafenstadt Ramsgate am östlichsten Ende von Kent.
Was an den Wave Pictures auf Platte mitunter spröde oder karg wirkt, wissen sie live in eine gänzlich ohne Effekte (nicht einmal solche zwischen Gitarre und Verstärker) auskommende, große Show zu verwandeln. Das hat nicht zuletzt mit der Virtuosität insbesondere Tattersalls zu tun, der den spielerischen Umgang mit den Saiten seiner Gitarre so beiläufig pflegt, wie andere sich den Kopf kratzen. "Wer soliert da?", fragt man sich bei einer niedrigen Bühne wie der der Ramsgate Music Hall, wo die Körper und Köpfe der vor uns Stehenden alles unterhalb der Schulterpartie der Band verbergen. Antwort: Der Mann, der auf der Bühnenlinken ins Leere starrt und dabei hin und wieder entspannt lächelt. Dave Tattersall schaut nicht aufs Griffbrett, was gibt es da schon Interessantes zu sehen, die Töne kommen ohnehin aus seinem Kopf.
Ich hatte die Wave Pictures voriges Jahr schon einmal als Backing Band von Brinks bzw. seiner Partnerin Clémence Freschard spielen gesehen (deren Album Boom Biddy Boom hier auch einmal eine Story wert wäre). Am Freitag in der Ramsgate Music Hall war aber alles wie angedeutet noch ein wenig anders.
Es sei vorausgeschickt, dass diese großteils ziemlich abgewrackte Stadt alles andere als eine Hipster-Hochburg der Indie-Kultur ist. Ein guter Teil der Leute, die in Ramsgate ausgehen, hoffen auf Beschallung und Unterhaltung, zu der man gut Bier trinken und vergessen, vielleicht ein bisschen launig gröhlen und einander gegenseitig beim Gute-Laune-Haben fotografieren kann. Da ist auch nichts Schlechtes dran.
Aber es machte es am hinteren Ende des Raums bisweilen schwierig, dem einleitenden Set von Freschard samt Wave Pictures und Stanley Brinks zu folgen, zumal die Band, getreu Stanleys Dogma weder Schlagzeug noch Verstärker, sondern ausschließlich die Stimme über die Anlage laufen ließ. Kleine 15 Watt-Verstärker waren das und die waren nicht einmal voll aufgedreht.
Nach einer kurzen Pause kam die Band zurück, um das Set von Stanley Brinks zu spielen, und dieser hatte indessen offenbar beschlossen, sich die Aufmerksamkeit des Publikums dadurch zu erzwingen, dass er es erst recht nicht übertönte. Er sang, so oft es ging, abseits des Mikrofons, er spielte sein Bariton-Sax in die freie Luft, er ließ den Sound atmen und brachte den Raum zum Schweigen.
Es sollte nicht lange dauern, bis der davon überforderte Teil des Publikums seine Zuflucht in der Bar einen Stock höher gesucht hatte, und bald waren wir, die tatsächlich die Songs hören wollten, ganz unter uns.
Stan macht keine Ansagen, seine sanfte Stimme erzählt ohnehin in Lied um Lied eine Geschichte nach der anderen aus seinem großen Schatz der Beobachtungen wiedererkennbarer Alltäglichkeiten wie dem Klang einer Espresso-Maschine bzw. Hymnen an den Alkohol bzw. beides zugleich.
Und irgendwann kommt er dann bei einem der auffälligsten Tracks aus "Gin", dem Song "Time For Me" an, dessen Refrain "It's time for me to go to sleep / Time for me to get to my cot / Time for me to rest my head / Time for me to sleep a lot" dem/der initiierten Hörer_in jeden Abend wieder in den Kopf schießt.
Zu diesem Zeitpunkt, etwa eine Stunde nach Beginn der Übung, durchmisst Brinks die Bühne bereits mit dem zufriedenen Grinsen eines Buben, der in den Wave Pictures das beste Spielzeugauto aller Zeiten gefunden hat und es genießt, zur Abwechslung einmal die Vorder- und Hinterräder zu vertauschen oder das Dach abzunehmen. Er geht bedächtig auf Dave Tattersall zu, während Johnny und Franic das Gerüst des Songs durch die Wolkendecke der magischen Fünf-Minuten-Grenze und immer weiter darüber hinaus bauen, und er sagt ihm was ins Ohr.
Wie angewiesen wandern Tattersalls Finger zum Lautstärkeregler, er dreht ihn lächelnd wie ein Buddha auf null und spielt sein Solo auf einer gänzlich abgedrehten Telecaster. Wer eine E-Gitarre zuhause hat, weiß, dass dieser Klang in etwa so laut ist wie das Wetzen einer Maus über einen Linoleumboden. Aber man hörte jeden Ton. Weil die Band sich unter Stanleys Direktion bereits so tief ins Reich der Stille vorgearbeitet hatte, dass unsere Ohren, statt wie üblich stumpfgeschossen worden zu sein, jedes kleinste Detail zu vernehmen vermochten.
Das fand ich wie gesagt radikal, musikalisch interessant (mit dem Leiserwerden schien die Dynamik nicht ab-, sondern zuzunehmen) und auch ziemlich mutig.
Dass der vom Album weggelassene, nur als Single erschienene, aktuelle Airplay-Track Orange Juice ("The radio sucks balls!") gar nicht zum Einsatz kam, machte die Verweigerung perfekt. Eine freundliche Verweigerung, wohlgemerkt. Ein provokanter Akt der Anti-Aggression, der auf dem Weg aus dem Lokal zu aufgeregten Diskussionen führte, die dreimal so laut waren wie das Konzert.
Mein fünfzehnjähriger Sohn, der in diesen Blogs hier aus Prinzip nicht vorkommt, hat bei diesem Konzert viel gelernt und sich sein Eintrittsarmband an einem speziellen Platz aufgehoben. Ich auch.
Robert Rotifer