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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

28. 1. 2014 - 16:34

How Can I Keep From Singing?

Über den gestern verstorbenen großen Folk-Aktivisten, Sänger und unfreiwilligen Popsongwriter Pete Seeger.

Man verzeihe mir den persönlichen Einstieg, aber wie viele Kinder der Sechziger und Siebziger teilen meine Erinnerungen an diese warme, unendlich gütige Stimme über dem manchmal sanften, dann stürmischen Plätschern eines Banjos oder einer zwölfsaitigen Gitarre, Soundtrack der Sonntagsvormittage sich als fortschrittlich wähnender Familien. „We Shall Overcome“, sang die Stimme und sagte der Menge, die in perfekter, friedlicher Harmonie dazu sang, die jeweils nächste Strophe an.

„We'll walk hand in hand!“ „We shall all be free!“ „We are not afraid!“ „We shall live in peace!“ „Whole wide world around“

Ausschnitt aus LP-Cover

Robert Rotifer

Rote Kanäle und schwarze Listen - der junge Radikale

Bevor er seine Songs anstimmte, und manchmal auch danach, erklärte Pete Seeger immer was über deren Geschichte, die gleichzeitig immer irgendwie Teil der großen Bewegung für eine bessere Welt und Teil einer großen friedlichen Versöhnung zu sein schien. Während sein Freund Woody Guthrie „This Machine Kills Fascists“ auf seine Gitarre gekrakelt hatte, stand auf dem Resonanzfell von Pete Seegers Banjo der säuberlich geschriebene Satz: „This Machine Surrounds Hate And Forces It To Surrender.“

Seeger war die wandelnde Versöhnung des inneren Widerspruchs des Folk Revivals: Er war selbst kein Mann des einfachen Volks, dessen Sache er sich so gern und leidenschaftlich (oft romantisierend und sentimental, aber nie herablassend) annahm, sondern der 1919 in Connecticut privat unterrichtete Sohn eines pazifistischen Musikwissenschaftlers und einer Violinistin bzw. ab 1932 der Stiefsohn der Komponistin Ruth Crawford Seeger.

Eine gemeinsame Leidenschaft dieser zweiten Ehe seines Vaters Charles war das Sammeln und Niederschreiben des bis dahin weitgehend undokumentierten Kanons amerikanischer Folk-Songs. Der junge Pete studierte in den Dreißigern in Harvard, schrieb in radikalen Zeitungen und trat – damals ahnungslos über Stalins Säuberungen, aber umso bewegter vom wachsenden, amerikanischen Labor Movement und dem Kampf gegen den Faschismus in Europa – der Young Communists League bei.

Sein erster Job war der eines Assistenten des reisenden Folk-Archivisten Alan Lomax, eine Arbeit, bei der er unter anderem den Meister des Folk Blues und der zwölfsaitigen Gitarre Leadbelly kennen lernte. Nach dem Krieg sollte Seegers (nach Gerhart Hauptmanns Stück „Die Weber“ benannte) Band The Weavers den Leadbelly-Song „Goodnight Irene“ zu einem Nummer eins-Hit machen und damit die Saat für das Folk-Revival der Sechziger säen.

Alan Lomax hatte Seeger 1949 den Song „Mbube“ des südafrikanischen Zulu-Sängers Solomon Linda vorgespielt. Gemeinsam mit den Weavers machte Seeger aus dieser Vorlage „Wimoweh“, einen antikolonialistischen Tribut an den schlafenden Löwen Afrika, der sich über die folgenden Jahre von Cover-Version zu Cover-Version in den Ethno-Schlager „The Lion Sleeps Tonight“ verwandelte.

Dieser Werdegang eines als aufrechtes politisches Statement gedachten Lieds, das sich Seegers Händen entrissen als Popsong verselbständigte, zog sich als roter Faden durch seine kompositorische Laufbahn.

Das 1949 gemeinsam mit dem Weaver-Kollegen Lee Hays als Arbeiterlied geschriebene, bei einer Veranstaltung der Communist Party of America uraufgeführte „If I Had A Hammer“ (Seeger verließ die Partei im Jahr darauf) brauchte etwa 14 Jahre, um 1963 in der Version von Trini Lopez als Party-Song die Welt zu erobern.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Seeger sich bereits von den Weavers getrennt. Nicht etwa weil die Band seit Anfang der Fünfziger vom FBI verfolgt und Seeger namentlich in der schwarzen Liste des Traktats „Red Channels: The Report of Communist Influence in Radio and Television“ genannt worden war, was für ihn und seine Band ein weitgehendes Berufsverbot im amerikanischen Entertainment-Business bedeutete (1955 wurde Seeger gemeinsam mit Hays vor Senator McCarthys berüchtigtes House Committe of Un-American Activities berufen. Er verweigerte die Aussage und wurde wegen Missachtung des Gerichts verurteilt und erst 1961 nach mehrmaligen Berufungen freigesprochen).

Der Bruch mit den Weavers erfolgte bezeichnenderweise vielmehr, weil die Band sich zur Linderung des daraus entstandenen Arbeitsmangels dazu herabgelassen hatten, ein Werbelied für Lucky Strike aufzunehmen.
Pete Seeger, unbestechlich korrekt in sonnigen wie in düsteren Zeiten, wollte mit der Tabakindustrie nichts zu tun haben.

Anfang der Sechziger, als die nukleare Bedrohung sich in Richtung Kuba-Krise verschärfte, adaptierte Seeger eine Passage aus „Der stille Don“ von Michail Sholochow zum Friedenslied:

„Where Have All The Flowers Gone“ wandelte sich in der Nachbearbeitung von Joe Hickerson zur bei Anti-Atombomben-Demos im Chor gesungenen Hymne, wurde 1961 vom Kingston Trio, und im Jahr darauf von Peter, Paul and Mary und Marlene Dietrich auf Englisch, Französisch und Deutsch popularisiert.

LP-Cover von Pete Seeger The Bitter and the Sweet

Robert Rotifer

Das Folk-Revival im New Yorker Greenwich Village hatte sich indessen zu einer musikalischen Massenbewegung ausgewachsen, mit dem jungen Bob Dylan als Gallionsfigur und Pete Seeger – bereits in seinen mittleren Vierzigern – als ihrem weisen Mentor und moralischen Kompass.

Die Ironie des Mythos Newport - Pete Seeger goes electric

Einem beliebten Mythos zufolge konnte Seeger 1965 beim Newport Folk Festival nur mit Mühe davon abgehalten werden, mit einer Axt die Stromkabel zu kappen, als Dylan mit seiner elektrischen Band auf die Bühne ging. Joe Boyd als Veranstalter bestreitet das in seinen Memoiren, und Seeger selbst behauptete im Nachhinein, ihn habe nur gestört, dass der Sound so schlecht war und man über dem Krach der Band Dylans Worte nicht verstehen konnte.

Fest steht, dass Seeger auch danach noch eifrig Dylans Songs coverte. Seine Version von „A Hard Rain's A-Gonna Fall“ beschleunigte etwa Dylans resignierte, biblische Vision des nuklearen Winters zu einem zornigen Kampflied. Davon abgesehen, erfuhr auch Seegers eigenes Werk bald ein elektrisches Make-over.

Die Byrds, die mit ihrem Beatles-inspirierten Cover des Dylan-Songs „Mr Tambourine Man“ sozusagen den Folk Rock erfunden hatten, nahmen sich auf ihren ersten drei Alben jeweils einen Seeger-Song vor. Der Schritt von der akustischen Zwölfsaitigen der jeweiligen Originale zu Roger McGuinns 12-saitiger Rickenbacker war logisch, aber der kulturelle Bruch radikal.

„Turn! Turn! Turn!“, Seegers Vertonung eines Psalms aus dem Alten Testament mit der friedensbewegten Pointe „A time for peace I swear it's not too late“, wurde in den Händen der Byrds zu einer proto-psychedelischen Zelebrierung des Freigeists der Hippie-Ära.

„The Bells of Rhymney“, die von Seeger in berührende Kontraste aus sanften, harschen und melancholischen Harmonien getauchten Verse des walisischen Dichters Idris Davies über den Arbeitskampf der Minenarbeiter, erklangen bei den Byrds in sattem Technicolor, gefiltert durch eine dichte Marihuana-Wolke.

Nur einer von Seegers Songs, seine Vertonung eines übersetzten Gedichtes des türkischen Dichters Nâzım Hikmet Ran, klang selbst in der Byrds-Version noch wie ein Moment der Verstörung inmitten des fabulösen Sixties-Idylls: „I Come And Stand At Every Door“ - Kandidat für den Ehrentitel „Der traurigste Song der Welt“ - erzählt die Geschichte eines siebenjährigen Kindes, das sich im Laufe des Songs als Opfer des Atomschlags von Hiroshima herausstellt.

Ihr Geist bleibt für immer ein Kind („When children die / They do not grow“), sie fragt nicht nach Obst oder Reis, nicht nach Süßigkeiten oder Brot, denn sie ist tot: „For I am dead /All that I ask is that for peace / You fight today, you fight today / So that the children of this world / May live and grow / May laugh and play.“

In seiner der Interpretation der Byrds weit überlegenen Solo-Version erspart uns Seeger nichts, nicht die Trauer, nicht die kämpferische Pose, weder das Schuldgefühl des Unbeteiligten, noch die ungebremste Sentimentalität der Schlussfolgerung. Zugegeben, die Menschheit mag sich in jene teilen, die sowas entweder zum Würgen oder zum Weinen bringt. Ich will da jetzt nicht werten, gehöre für meinen Teil aber entschieden zu letzteren.

Abgänge via Moll - der heimliche Romantiker

Was sowohl in „I Come And Stand At Ever Door“ als auch „The Bells Of Rhymney“ und „Turn! Turn! Turn!“ vorkommt und in Folge auch das Songwriting der Byrds wesentlich beeinflusste, war jedenfalls Pete Seegers liebster kompositorischer Trick, und zwar zwecks größtmöglicher Herzerweichung die in Folk- oder Country-Songs übliche, abfallende Bass-Linie von der vierten auf die erste Stufe in vollen Dreiklängen harmonisch auszuformulieren.

In C-Dur heißt das beispielsweise, in Gitarrenakkorden gesprochen: F / E-Moll / D-Moll / C.

Bei Laune ließ Seeger vor Rückkehr zur Grundstufe den Moll-Akkord auf der zweiten Stufe sogar noch lyrisch zu einem verminderten Septakkord mutieren. „Oh what will you give me, say the sad bells of Rhymmmm... (sowieso schon so traurig, aber in der Live-Version, die bei mir jetzt gerade läuft, erzeugt er hier im letzten Refrain spontan noch zusätzliches Drama mit erwähntem vermindertem Akkord) ...ney!“

Was daran auch für jene interessant sein könnte, die Harmonielehre (irrtümlich) für elitären Tand halten, ist dass dieses romantische Stilmittel so gar nicht zum Folkpurismus passt, den Pete Seeger seiner Rhetorik nach repräsentierte. Es hatte also durchaus seine musikalischen Gründe, dass seine vorgeblichen Folk-Songs so unwiderstehlich zum Crossover in Richtung Pop-Welt neigten.

Noch eine kleine, banale Beobachtung: Vor circa zehn Jahren kaufte ich mir ein fünfsaitiges Banjo und versuchte, ein paar von Pete Seegers Pickings nachzuspielen. Ich scheiterte kläglich, aber fand immerhin heraus, warum sein Banjo, zum Beispiel in der Solo-Version von „Follow The Drinking Gourd“ so gar nicht nach Western, sondern würdevoll und melodramatisch klang: Es lag an der in Richtung Moll um einen Halbton nach unten gestimmte H-Saite. Wieder hatte sich ein Mysterium der Kindheit im Handumdrehen (in diesem Fall den Stimmwirbel greifend) aufgelöst.

Die Stimme, mit der ich aufwuchs, ist mit Pete Seegers Tod natürlich nicht verstummt. Während ich das schreibe, kommt sie gerade vom Plattenspieler, und versöhnlich ist Pete Seeger auch in seinem Tod geblieben. 94, das ist ein mehr als anständiges Alter. Der Mann, der nie aufhörte zu singen, starb in Beacon, in einem Haus auf einem Grundstück am Hudson River, das er Ende der Vierziger Jahre gekauft hatte.

Toshi Seeger, die 1922 in München als Tochter eines japanischen Exil-Marxisten geborene Filmemacherin, mit der er fast 70 Jahre verheiratet war, und die 2007 als damals 85-jährige Produzentin der Doku „Pete Seeger: The Power of Song“ einen Emmy Award erhielt, war letztes Jahr am selben Ort gestorben. Mit ihrem Tod ging wohl auch für Pete Seeger ein gelungenes Leben zu Ende.