Erstellt am: 24. 10. 2013 - 19:29 Uhr
Ein Tag in Bordeaux
Ob ich zur Dance-Company gehöre, ob ich mit der Tanztruppe in der Stadt bin, fragt mich die freundliche Frau an der Hotelrezeption. Ahm, nein, antworte ich hastig, den Bruchteil einer Sekunde wirklich versucht zu sagen, ja, ich bin Tänzerin. Nein, ich treffe nur ein paar Bands, erwidere ich schließlich. Mit einem gewissen Gefühl der Ehre schwinge ich mich, fast schon tänzelnd, die Hoteltreppe empor, um einen Blick über die Dächer der Stadt zu werfen.
Das Hotel ist kein „hippes“, sondern ein, sagen wir mal „gediegenes“, aber hier bin ich nun mal gelandet. Meine „Mitbewohner“: ältere BritInnen, die Smalltalk führen wie „Hatten Sie beim Flughafen von Bristol auch diesen enormen Stau?“ oder „Wann fahren Sie zur (vom Hotel angebotenen) Weinverkostung (ins nahe St Emilion)?“ oder „Werden sie auch die berühmte Düne (von Pilat) besteigen?“. Das alles in Ehren, auf mich aber wartet ein popkultureller Stadtführer, mit dem ich auch noch auf Bristol zu sprechen komme, weil er dort früher gelebt hatte.
Beinahe pünktlich auf die Minute trifft Francois Marry von der Band Francois & The Atlas Mountains beim Hotel ein. Sein altes Fahrrad schiebend kommt der Franzose entspannt des Weges. Er kommt aus der Stadt Saintes, die zwischen La Rochelle am Atlantik und Cognac im Landesinneren liegt, oder grob gesagt: etwas nordwestlich von Bordeaux. Sieben Jahre lang hat Francois in Bristol gelebt, erst als Assistenzlehrer für Französisch an einer Schule und dann musikmachend. Bis er sich entschieden hatte, wieder nach Frankreich zurückzukehren, um von Bordeaux aus Musiker zu sein.

Radio FM4 / Eva Umbauer
In den Longplayer „Plaine Inondable“ von Francois & The Atlas Mountains hab ich mich vor ein paar Jahren verliebt: Zarter Indiepop mit einem gewissen Stursinn, aber gleichzeitig voller Leichtigkeit, gesungen auf Englisch und auf Französisch, mit der Stimme von Francois, die was hat.
Beim Blue Bird Festival in Wien war Francois Marry dann auch, wo ich blöderweise aber nach einem hübschen Interview beinahe den kompletten Auftritt verpasst habe.
Dann unterschrieb Francois schon einen Vertrag mit Domino Records, dem Londoner Plattenlabel. Auf Tour nach Österreich kam er mit dem ersten Album für Domino - "E Volo Love" - aber nie. "What happened?", frag ich Francois, während wir am Grand Theatre von Bordeaux zum Fluss runtergehen, vorbei an der Place des Quinconnes, samt seiner gebückten Menschenfiguren und den Pferden, die statt Hufen die Füße von Drachen haben und aus deren steinernen Nüstern das Wasser strömt. Ein wildes Denkmal. Daneben Wohnwägen wie von einem kleinen Zirkus und ein melancholisch anmutendes, ruhendes Karussell.
„Unser deutscher Veranstalter", sagt Francois Marry, "hat einfach zu große Venues gebucht. Der Vorverkauf war dann nicht gut genug. Wir hätten einiges an Geld verloren, und er auch, also wurde alles abgesagt.“ Wir sprechen Englisch. Francois tut dies ja perfekt, und alles was ich sagen möchte, würde ich einfach nicht ausdrücken können auf Französisch. Wir gehen an der Esplanade den Fluss entlang. Die Garonne ist mächtig, und sie scheint in die falsche Richtung zu fließen. Die Mündung, die Gironde, ist doch in dieser Richtung, sage ich etwas unsicher, gegen Nordwesten zeigend. Ja, sagt Francois, das ist, weil gerade Flut ist und das Wasser vom Meer hereindrängt. Das Wasser ist braun und düster. Ob das zwischendurch auch mal etwas reiner ist, frag ich etwas naiv. Nein, das ist immer so braun, schmunzelt Francois Marry, der sich bald als hervorragender Kunstvermittler, Tischpartner und Konzert-Mitbesucher herausstellen wird.

Radio FM4 / Eva Umbauer
Wir gehen in das CAPC, das Museum für zeitgenössische Kunst. Dort ist gerade eine Ausstellung über Fußballstadien zu sehen. Was etwas banal klingen mag, ist hier tatsächlich in einem Kunstrahmen zu sehen. Bordeaux baut gerade an einem neuen Stadion. Überhaupt ist hier in den letzten Jahren eine wunderbare Bauwut ausgebrochen: Die hübschen Lampen an der Esplanade, die abends in zarten Farben leuchten, die neue Brücke oben beim Chartrons-Viertel, die nachts dezent erstrahlt und sich auch schon mal öffnet, wenn ein Kreuzfahrtschiff zur Stadt hereinkommt.
Den alten Hafen gibt es nicht mehr. Das ist zwar eine Wunde in den Herzen so mancher der Bordelais, der Bewohner der Stadt, aber so wie es jetzt ist: großartig.
Ein Taxifahrer, vor Jahren aus Paris nach Bordeaux gezogen, erzählt später an diesem Tag von Ratten so groß wie, ja, so groß wie kleine Hunde, während er das Lenkrad kurz auslässt, um die schiere Rattengröße zu demonstrieren. Er sagt, er lebte im ersten Haus im Chartronsviertel - dem alten protestantischen Weinabfüller-Viertel - das in den letzten Jahren renoviert wurde. Damals waren dort noch überall die besagten Ratten. Die alten Lagerhallen am Kai waren voll davon. Heute sind dort Lokale und Geschäfte dort, und ein Skate-Park, und nirgendwo kann man so fantastisch Rad fahren wie dort, den Fluss entlang, nachdem der Autoverkehr zurückgedrängt worden war. Gentrification, die die Mieten ins Unermessliche treibt? Noch nicht ganz. Auch kauft die Stadt Häuser, um sie für die Bevölkerung mit wenig Geld zu öffnen.
Francois Marry führt mich weiter durch die Fußballstadien-Ausstellung, samt Videoinstallation von Stadion-Unfällen wie im belgischen Heysel-Stadion in den 1980er Jahren. Woher er all die Details wisse, frage ich ihn. "Ich war gestern hier", sagt er, "habe alles erklärt bekommen." Dass er dennoch ein wirklich mehr als begabter Vermittler von Wissen und Kunst ist, ist unübersehbar. Francois Marry malt auch. Aber er hat auf dem Gebiet keine professionellen Ambitionen, winkt dieser bescheidene und dennoch so fokussierte junge Mann ab.
Wir gehen in jenes Viertel, in dem er wohnt: St. Michel, nur einen Katzensprung von der berühmten Brücke entfernt und dennoch eine andere Welt. "Es ist ein wenig wie in Berlin hier", sagt Francois, "Oder wie im alten London. Hier ist es ein wenig 'Dickensian'", meint Francois, auf die Enge der Gassen und die Schwärze der Häuserfronten anspielend. "Wenn Noir Desir - die großen, und dann so tragischen Rock-Söhne der Stadt - jetzt aus Bordeaux kommen würden, sie würden eher 'desir blanc' heißen", meint Francois Marry in Anspielung auf die mit Sandstrahl weißgewaschenen Häuser. Immer mehr von ihnen gibt es in Bordeaux.
Dieses aufwändige Restaurationsverfahren ist noch nicht bis St. Michel gekommen. Dennoch strahlen die alten Häuser, in deren Gassen an diesem Freitagnachmittag kaum jemand zu sehen ist, eine gewisse Schönheit aus, mit ihren großen Fenstern bis zum Boden und den zarten schmiedeeisernen Balkonen. Wir reden von Noir Desir, weil es fast unmöglich ist, nicht von Bertrand Cantat zu reden, gerade dieser Tage, wo er sein erstes Album seit jener Nacht vor zehn Jahren veröffentlicht, in der er das Leben von Marie Trintignant beendete. "Er hat das Recht wieder Musik zu machen, wieder aufzutreten", sagt Francois Marry erst noch leicht diplomatisch, um hinzuzufügen, „Es ist gut, dass er wieder Musik macht.“
Wir gehen weiter im St.-Michel-Viertel: in ein Plattengeschäft, das Total Heaven heißt. Und tatsächlich ist der Laden so etwas wie ein total heaven für Fans von alternativer Popkultur. Fein säuberlich finden sich in einer kleinen Abteilung „Funk Soul Sisters“, in einem anderen Abschnitt der Plattenregale – viel Vinyl! – präsentiert sich alles von „Weird Punk“ über „Freak Metal“ bis zu, nun ja, allem Alternativen eben.
Ich entdecke - ganz vorne - ein Noir-Desir-Doppelalbum – eine schöne Zusammenstellung aus den besten Songs der lokalen Helden, die einst die Nation so begeisterten - von Lille im Norden bis nach Marseille im Süden- und die dann so ein abruptes Ende fanden. Das Problem, sagt Marciel, der Shopbetreiber, ein gestandener Musikfan in den 40ern, sei, dass Bertrand Cantat sein, ja, sozusagen „Comeback“-Album bei einer großen Plattenfirma veröffentlicht. Wäre er bei einem kleinen Plattenlabel, dann würde sich der Boulevard, der große Mainstream im Land, nicht so sehr damit befassen, dass er wieder Musik macht. Auch er ist der Meinung, dass Bertrand Cantat das Recht hat, wieder als Musiker unterwegs zu sein.
An die Wand hat Marciel den neuen Cantat-Longplayer (unter dem Bandnamen Détroit, zusammen mit Ex-16-Horsepower-Mann Pascal Humbert) noch nicht gepinnt, das Album kommt erst, die erste Single ist nur digital erhältlich. Dafür erstrahlen an der Total-Heaven-Wand die neuen Albumcover der Dänin Agnes Obel, die in Frankreich recht bekannt ist, und etwa der Filmsoundtrack zum neuen Claire-Denis-Film „Les Salauds“ von Tindersticks-Mann Stuart Staples.
Ach ja, Francois, kommst du mit zum Bahnhof? Ich möchte das Zugticket nach Limoges schon kaufen – ein Interview mit Stuart von den Tindersticks, der dort seit einigen Jahrten lebt, ist ausgemacht. Bevor wir zum Bahnhof fahren, noch schnell ein, zwei CDs kaufen, schließlich möchte Marciel ja auch ein Geschäft machen: eine Compilation von Bordeaux-Bands mit Songs aus den Jahren 1989 bis 1998 finde ich da etwa. Ein schönes Dokument, samt einem Song von Noir Desir. Ich bin versucht, das aktuelle Francois & The Atlas Mountains Album mitzunehmen – auf Vinyl. Aber wer soll das denn dann zurück nach Wien schleppen?

Radio FM4 / Eva Umbauer
Mittlerweile hat sich ein ganzes Häufchen Menschen in Marciels Geschäft versammelt, in und vor dem Laden. Gratis-Bier hat der Mann zur Verfügung gestellt. So alle zwei Monate macht er das, verrät Francois. Junge und schon etwas in die Jahre Gekommene genießen Trank und Musik. Selbst eine Soundperformance gibt es. Ziemlicher Lärm für meine (banausigen?) Ohren. Es handelt sich um einen Typen, erklärt Francois, der malt, und jetzt gerade wird eines seiner Bilder zu Sound. Zeit zum Bahnhof zu fahren, mit der leicht futuristischen Tram, die es erst seit einigen Jahren gibt. Am Bahnhof St. Jean, direkt in der schönen alten Halle: ein großes Plakat zum neuen Album von Agnes Obel. Agnes is big in France.

Radio FM4 / Eva Umbauer
Zwischenstopp zuhause bei Francois Marry in Bordeaux. Eine Erdgeschoßwohnung mit hoher Decke und kleinem Garten, mit Blick auf die Turmspitze der alles überstrahlenden St.Michel-Kirche. Auch der erste Stock gehört zur (leistbaren) Wohnung von Francois. "In Bristol könnte ich nicht Vollzeit-Musiker sein, da müsste ich Geld dazuverdienen", sagt er, "während ich hier gut über die Runden komme."
Hier in der Wohnung probt er auch mit den Atlas Mountains. Hier komponiert er am Klavier, und hier malt er. Hier trinkt Francois Tee – mit Milch. Das hat er aus seiner Zeit im englischen Bristol beibehalten. Ich packe meine aus Wien mitgebrachte Schokolade aus, als Gastgeschenk sozusagen. Nicht dass es hier in Frankreich einen Schokolade-Mangel gäbe, stottere ich. Tee mit Milch und Schokolade, das passt gut zusammen.

FrancoisMarry
Francois Marry legt das aktuelle Album von Bobby Womack auf den Plattenteller und fragt, ob ich Afrca Express kenne, das Projekt von Damon Albarn, das Musik aus Afrika fördert. "Ich spiele bald bei einem der Africa-Express-Konzerte", sagt der weiter bescheiden agierende Francois. In Marseille, der großen Stadt im französischen Süden, die heuer auch Europäische Kulturhauptstadt ist, tritt Francois & The Atlas Mountains im Rahmen von Africa Express auf.
Und jetzt wird Francois doch fast ein wenig wehmütig, dass er aus Bordeaux wegzieht, schon bald – nach Brüssel. Weiter im Norden zu sein bedeutet für ihn, besser auf Tour gehen zu können. In Spanien ist der Markt praktisch zusammengebrochen, da gibt es für ihn kaum Tour-Möglichkeiten, und außerdem sind in der Band ein Musiker aus Paris und einer aus Glasgow, und gemeinsam hat man den Schritt beschlossen. Immerhin kennt Francois in Brüssel die französische Musikerin Francoiz Breut. Sie singt mit ihm auf dem aktuellen Album ein Duett: "Cherchants Les Ponts".
Der neue Longplayer von Francois & The Atlas Mountains ist schon fertig. "Ich fliege in ein paar Tagen nach London", sagt Francois, in seiner Küche sitzend, "zum Mastering des Albums." Aufgenommen hat er es zusammen mit dem Briten Ash Workman, den man etwa von der englischen Band Metronomy her kennt, in einem Studio in den Weinbergen von Bordeaux.
Die Texte sind diesmal mehrheitlich auf Französisch, nur wenige auf Englisch. "Weil ich eben zuletzt hier in Bordeaux gelebt habe", sagt Francois, "und ich weniger mit der englischen Sprache zu tun hatte als in den Jahren davor." Das Album soll "Piano Ombres" heißen. Piano-Schatten oder "come down shadows" - "wenn man das italienische Wort "piano" übersetzt", sagt Francois Marry.

FrancoisMarry
Ich könnte noch ewig plaudern mit Francois Marry, aber der Abend ruft uns hinaus. Das Essen in einem kleinen Lokal in St. Michel - einer Art Cooperative, deshalb ist es gar so günstig – ist herrlich: Fisch, Schweinefleisch, Käse,…von allem ein wenig, und dazu, eh klar, Bordeauxwein. Auch der muss nicht teuer und kann trotzdem gut sein. Ich bekomme nachdem ich ein paar Euro zahle einen Mitgliedsausweis: "Eva" steht darauf. Wir müssen früh dort sein, sonst gibt es keinen Platz mehr, hatte Francois gesagt. Das verstehe ich jetzt. Aber wir haben ohnehin schon den nächsten popkulturellen Termin.
In einer „cave“, einem alten Weinkeller, über dem ein chilenisches Lokal ist, spielen Freunde von Francois Marry. Wir zahlen jeder fünf Euro. Gästeliste? Tststs. Das wäre vermessen. Bevor wir die eiserne Treppe in den Keller hinabsteigen, zeigt ein junger Typ Francois seine Hände. Sie sind violett-schwarz verfärbt. Immer wieder streckt der junge Mann in der grünen Mod-Parka und dem Britpop-Haarschnitt mit dem französischen Einschlag seine Hände. "Was ist passiert?" will ich schon beinahe panisch fragen, bevor ich doch noch rechtzeitig erkenne, der junge Mann war bei der Weinlese. Herbst in Bordeaux eben.
Ein junger Elektroniker ist unten in der „cave“ bereits am Werk: Francois drängt es sofort nach Vorne zur Bühne. Er wirft sich in den Sound, zappelt und zuckt, nur um sich beim nächsten Künstler völlig entspannt vor der Bühne auf den Boden zu legen, mit seiner Jacke als Kopfpolster. "Dieser Musiker ist ein wenig wie die Bands von K-Records in Olympia, Washington", flüsterte mir Francois vorher noch zu. Ah, verstehe, sage ich, während die dritte Band des Abends – eine Riot Grrl-Band – gerade einen kleinen Stand aufbaut.
Der Musiker, der sich auf der E-Gitarre begleitet, singt, „I wanna get rich and live in Berlin.“ Warum gerade in Berlin, denk ich, wenn er reich ist? Nicht Paris? Oder London? Oder New York? Nein, Berlin. Träume in Bordeaux, im Südwesten von Frankreich.
Ich kann die langsam heraufkriechende Müdigkeit nicht mehr verleugnen. Sorry, Riot Grrls, ich schaff es nimmer. Francois begleitet mich mit seinem Fahrrad bis zur Rue Sainte Catherine, von dort finde ich den Weg ins Hotel. Es fängt an zu regnen. Es gießt in Strömen. Taxi. Taxi! Taxi? Ich sehe keines. Egal, bin ohnehin schon nass wie ein Hund, der in die Garonne gefallen ist.
Francois muss früh raus am nächsten Tag, ein Konzert in der Stadt Nimes steht an, und Frankreich ist ein großes Land, die Strecke dorthin sieht nicht gar so weit aus, ist aber dennoch kein kurzer Weg. Merci, merci, Francois! Ich freue mich schon auf das neue Album von den Atlas Mountains. Auch wenn die Veröffentlichung noch etwas dauert, aber der Frühling kommt gewiss.