Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der kollektive Wahnsinn"

Klaus Brunner Mittelamerika

Palmen, Pathos, Politik

9. 8. 2012 - 14:29

Der kollektive Wahnsinn

Sie haben Schaum vorm Mund, verdrehen die Augen, schreien und zucken völlig aus. In Sasa, Nicaragua, leiden rund 40 Jugendliche seit Monaten an Grisi Siknis. Schuld sind die Geister.

Der 9. August ist der internationale Tag der indigenen Völker. Die Miskitos haben ihren Ursprung in einer Mischung aus indianischen, afrikanischen und europäischen ethnischen Gruppen. Ihre Religion ist eine Synthese aus (deutschem) Protestantismus und indianisch-afrikanischer Spiritualität.

Ein brütendheißer Nachmittag im kleinen Miskito-Dorf Sasa im Nirgendwo von Nicaragua. Es heißt, hier sind etwa 40 Jugendliche von Grisi Siknis befallen. Es beginnt immer mit starken Kopfschmerzen. Dann kommen die Krämpfe und die dunklen Visionen. Junge Frauen sehen einen großen schwarzen Mann mit blutroten Augen, er will Sex. Männlichen Jugendlichen begegnet am flussnahen Friedhof eine böse Meerjungfrau.

Sie wollen die Geister vertreiben, schlagen wie wild um sich. Die jungen Leute laufen in Panik durchs Dorf und entwickeln ungeheure Kräfte. Sie demolieren Häuser und verletzen sich selber mit Messer und Machete. Einige scheinen fremde Sprachen zu sprechen. Nach einem Anfall kommen Amnesie, Fieber und große Erschöpfung. Sasa ist im Ausnahmezustand.

La Prensa

Fotos: La Prensa

Seit Jahrhunderten tritt die rätselhafte Krankheit epidemisch auf: "Bla o Wakni" oder "Grisi Siknis" nennen es die Indigenen, eine sprachliche Abwandlung von "Crazy Sickness". Vor zehn Jahren gab es den bisher heftigsten Ausbruch: 360 Teenager flippten in ihrem Dörfchen gleichzeitig aus. Betroffen sind fast ausschließlich Jugendliche zwischen 14 und 20 – davon wiederum mehrheitlich Mädchen und junge Frauen. Jeder Versuch, Grisi Siknis mit schulmedizinischen Methoden zu behandeln, ist bisher gescheitert: "Ich kann dem Betroffenen Valium geben, dann schläft er vielleicht ein paar Stunden. Aber danach geht der Wahnsinn erst recht wieder los", sagt Hans-Peter Rupilius, ein österreichischer Arzt, der seit mehr als 25 Jahren in Nicaragua lebt. Der ehemalige Chirurg hat sich in mehreren Studien mit dem Thema befasst. "Das Einzige, das hilft, sind die Beschwörungsformeln und die Kräutermedizin eines Schamanen."

unknown

Miskito-Dorf im karibischen Nicaragua

Geister vs. Wissenschaft

Über Grisi Siknis ist schon viel gerätselt worden. Auf der Hand läge die Erklärung, dass psychoaktive Drogen im Spiel sind oder dass es sich lediglich um großes Theater handelt. Derlei Spekulationen sind wissenschaftlich widerlegt. Die Wiener Ethnologin Gerhild Trübswasser - sie hat eines der Standardwerke zum Thema verfasst - meint, es handle es sich um ein "soziokulturelles Leiden". Sie glaubt, bei Grisi Siknis handle es sich um ein soziales Trauma, das sich in das kollektive Gedächtnis der Miskito eingeschrieben hat. Die brutale Kolonial-Geschichte und die Traumata des Bürgerkriegs würde auf diese Weise verarbeitet.

Neben der blutgetränkten Historie des Landstrichs haben westliche Forscher auch sexuellen Missbrauch als Ursache des soziokulturellen Leidens ausgemacht. In den sehr patriarchal geprägten Gesellschaften der Miskito-Dörfer werden Mädchen und junge Frauen immer wieder von Verwandten oder Nachbarn vergewaltigt. Darüber spricht aber niemand, die Frauen müssen das Erlebte alleine verarbeiten. Die "Krankheit" Grisi Siknis könnte vielleicht so ein Weg sein, diese Vorkommnisse zu verarbeiten. Das würde auch erklären, warum mehr Mädchen und junge Frauen davon befallen sind, als Männer.

Klaus Brunner

"Das stimmt so nicht!" sagt Pablo Montevis-Imiliano, er ist evangelischer Pastor und Schamane – kein Widerspruch im karibischen Nicaragua. "Für Menschen aus dem Westen ist das schwer zu verstehen. Aber es hat mit schwarzer Magie zu tun. Und manchmal bestrafen die Geister ein Dorf für schlechtes Verhalten". Dabei zieht er seinen Talisman aus der Hosentasche, ein kleines, schweres Stoffbündel, mit diversen schützenden Materialien befüllt. Wenn er mit ruhiger Stimme und im Brustton der Überzeugung von Baumgeistern, der indigenen Seele und bösen Flüchen erzählt, kann man gar nicht anders, als ihm fasziniert zu lauschen. Sein Gegenzauber hatte schon bei vielen Krankheitsfällen Erfolg, meint er und drückt einen Anrufer auf seinem Smartphone weg.

Das östliche Nicaragua ist schwer zugänglich und war lange Zeit von der englischen Krone besetzt. Ein Großteil der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze.

Es breitet sich aus

Neben den Miskito werden auch die Mayangna, ein zweites indigenes Volk in Nicaragua, alle paar Jahre vom Wahnsinn befallen. Mittlerweile greift die Krankheit vereinzelt auch auf die spanisch-mestizische und die afrikanisch-kreolische Bevölkerung über. Als fremder "Chele" aus Europa bräuchte man sich hingegen nicht vor Grisi Siknis fürchten, versichert der Schamane. Denn das entscheidende Element sei der Glaube an die Geister.

In der fernen Hauptstadt Managua hat das nicaraguanische Gesundheitsministerium das Phänomen Grisi Siknis mittlerweile als ernstzunehmendes Problem anerkannt. Nach der letzten großen Epidemie wurden Ärzte und Psychologen in die Dörfer geschickt, wo die Krankheit auftrat. Auch sie kamen zu keiner anderen Diagnose als die westlichen Forscher: keine organischen Ursachen, unklare psychologische Hintergründe, behandelbar nur von einheimischen Heilern.

Was Grisi Siknis und Magersucht gemeinsam haben

Grisi Siknis mag auf den ersten Blick völlig abgedreht und exotisch erscheinen, tatsächlich gibt es aber verschiedenste Phänomene nur regional auftretender und teilweise schwer zu erklärender Krankheiten auf der ganzen Welt. Solche Krankheiten, die nur eine bestimmte kulturelle Gruppe betreffen, nennt man "culture-bound-syndromes". Andere Beispiele dafür wären zum Beispiel die Anthropophobie in japanischen und chinesischen Gesellschaften oder Bulimie und Magersucht in unseren Breiten.

Die Miskitos in Nicaragua haben immerhin einen halbwegs normalen Umgang mit Grisi Siknis gefunden: Kommt es zu einem Auftreten, reagiert die Dorfbevölkerung umgehend. Läuft eine Patientin in Trance davon, so folgen ihr zahlreiche Männer, um sie aufzuhalten. Sie wird fixiert und ein Schamane beginnt mit dem "Gegenzauber". Die Betroffenen werden nicht ausgegrenzt, sondern innerhalb der Gemeinschaft behandelt und können, nachdem der Zustand überwunden wurde, ohne Stigmatisierung weiterleben. So wird es auch bei den 40 Jugendlichen aus Sasa sein. Aber bis die Magie des Schamanen wirkt, beherrschen das Dorf weiterhin die bösen Geister.