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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

5. 7. 2012 - 00:13

Die Scherbe in der Londoner Haut

In London wurde "The Shard" ("Die Scherbe") eingeweiht - nicht nur das höchste Gebäude Westeuropas, sondern auch einer seiner größten Metaphernspender. Manche davon gehen sich aus, andere nicht.

In den Jahren 2009 bis 2011, solange ich einen gewissen Voiceover-Job zu machen pflegte, der mich regelmäßig in Richtung Bermondsey brachte, kam ich auf dem Weg aus der Station London Bridge immer wieder an der größten Baustelle der Stadt vorbei. Wochenlang glotzte ich in die Tiefen einer Baugrube und sah den Bohrern beim Bohren zu. Das wäre was zum Fotografieren gewesen.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Mir kam diese offensichtliche Idee allerdings erst, als der Liftturm im Kern des künftig höchsten Gebäudes in Westeuropa bereits wie der Monolith am Who's-Next-Cover an den Südlondoner Wolken schabte. Das war im Frühling 2010.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Von da an fotografierte ich - wann immer ich in die Nähe kam - über anderthalb Jahre hinweg jene wuchernde Konstruktion, die dereinst zu "The Shard", dem 310 Metern vom Gehsteig bis zum letzten Spitzchen reichenden neuen Londoner Wahrzeichen werden sollte.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Zwischen Phasen, in denen sich kaum was zu tun schien, schien das Gebilde ruckartig in die Höhe zu schnellen, und das Corporate Design rund um die Baustelle wuchs stets mit - ein fixer Bestandteil des Baukonzepts nach Architekt Renzo Pianos Plänen.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Die Nachbarschaft hatte sich schon vor Jahren zu ändern begonnen. Bermondsey, früher einmal ein Südlondoner Niemandsland, hatte sich besonders in den letzten fünf bis zehn Jahren dank der von den Boni im Finanzsektor genährten Immobilienblase zusehends gentrifiziert.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Schließlich sind die Bankentürme der City auf der anderen Seite des Flusses bzw. der Canary Wharf flussaufwärts nicht weit entfernt. Das soll nicht heißen, dass die Armut aus der Gegend verschwunden wäre, aber sobald einmal ein Pub an der Bermondsey High Street jenseits der vier Pfund für ein Bier verlangt, ergibt sich die soziale Trennung ganz von selbst.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

"The Shard" hat mit all dem allerdings wenig zu tun. Wo ein Haus gebaut wird, in dem nebst Büros für Hedgefonds, einem Fünfsternehotel, jeder Menge Restaurants und Luxusshops noch zehn Wohnungen für JEWEILS umgerechnet 37 bis 62 Millionen Pfund (!) angeboten werden, erübrigt sich jedes Gerede von Community oder Nachbarschaft.

Da kann die vom Staate Qatar und seiner Nationalbank bezahlte Baufirma in ihrer Promoliteratur noch soviel sozialromantisches Zeug von einem artifiziellen, neuerdings "London Bridge Quarter" genannten Kiez erzählen.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Aditya Chakrabortty hat vorige Woche im Guardian ziemlich schlüssig erklärt, warum "The Shard" als Metapher für das moderne London "The Tower of the 1%" sein wird (es gibt zwar eine öffentliche Aussichtsplattform, aber bei einem Preis von 112,50 Euro per Liftfahrt für eine 4-köpfige Familie bleibt auch dieser Zugang elitär).

Sein Kollege Simon Jenkins sieht den Turm als ein Symbol der britischen Liebesaffäre mit Finanzklunkern an der Wende zum 21. Jahrhundert und stellt einen Zusammenhang mit den Zerstörungen historischer moslemischer Bauwerke in Timbuktu durch Islamisten her: "Ein finanzieller Fanatismus, der ebenso eigensinnig und destruktiv ist wie der religiöse Fanatismus in Timbuktu."

The Shard, im chronologischen Aufbau

Robert Rotifer

Vielleicht sollte ich darauf hinweisen, dass Jenkins nebst seiner journalistischen Tätigkeit auch der Chairman des National Trust ist, welcher sich der Konservierung der architektonischen und landschaftlichen Schätze Großbritanniens widmet. Freudige Zustimmung von seiner Seite wäre also nicht unbedingt zu erwarten gewesen.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Auch erwähnen könnte ich, dass sich in direkter Umgebung der völlig in Glas gekleideten "Shard" die an klobiger Grimmigkeit kaum zu überbietende Betongewalt des mit 142 Metern immerhin beinahe halb so hohen, in den 70er Jahren errichteten Guy's Towers in den Himmel reckt.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

In der Tat ist die östliche Themsen-Front derartig gespickt mit - vor allem aus den postmodernen 80er Jahren stammenden - Grässlichkeiten, sodass sich das Argument der Verschandelung zumindest aus der Nähe nicht wirklich halten lässt.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Auch die in der Wolkenkratzerkritik gewohnte Enthüllung, dieser stelle nichts anderes als einen gigantischen Phallus dar, bedarf im Falle der "Shard" rein von der Form her - schon überhaupt im Vergleich zu Norman Fosters sogenannter Gurke - eines ziemlich fixierten Blickes.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Was Jenkins aber richtig sieht, ist dass "The Shard" - wie so oft bei repräsentativer Architektur der Fall - nicht seine Zeit, sondern das Jahrzehnt davor repräsentiert, als die Pläne gezeichnet und die Bewilligungen erteilt wurden und es in der damals noch boomenden Londoner City an potenziellen Finanziers nicht mangelte.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Schließlich übernahmen die Scheichs von Qatar erst 2009, also nach der ersten Kreditkrise, den Bau.
Dass sich somit eine arabische absolute Monarchie zu Zeiten des gerade wieder in Defensive befindlichen, sogenannten "arabischen Frühlings" ein derartiges Monument mitten in London gönnt, hat in der Tat was zu sagen.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Die von Jenkins geortete Gefahr, dass rund um "The Shard" nun ein Glasgigant nach dem anderen aus dem Boden schießen könnte, kann ich dagegen nicht erkennen, stehen wir doch gerade mitten in der Anfangsphase eines unabsehbar großen Londoner Bankenskandals, der von abermilliardenschweren Schadensersatzzahlungen gefolgt werden könnte. Und das inmitten einer scheinbar endlosen Rezession.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Selbst wenn die Finanzwirtschaft sich noch einige Weile ihr Fett sichern sollte, während rundum die Lebensstandards sinken: Irgendwann wird sich diese geborgte Schwerelosigkeit nicht mehr ausgehen, und die "Shard" als "virtuelle Stadt" - wie die Bauherren sie nennen - bleibt ersteres, nämlich eine Schimäre, steht sie doch immer noch auf realem Londoner Boden.

The Shard im Aufbau, chronologisch

Robert Rotifer

Also wenn schon Metapher, dann gleich die vom Turm zu Babel. Oder der passende Name des Gebäudes selbst als Sinnbild für das kaputte System, das es repräsentiert: "The Shard" - zwar ein sehr, sehr hoher und eleganter, aber immer noch ein Scherbenhaufen.

The Shard im Londoner Panorama

Robert Rotifer

Das Londoner Panorama vom Primrose Hill, unübersehbar: "The Shard"

P. S.: Habe gerade ein Bild von der heutigen Einweihung übermittelt bekommen. Erste Eindrücke von der zu erwartenden Population der "Shard". Interessanter Frauenanteil übrigens.

Eröffnung der Shard, fünf Männer, einer davon Boris Johnson, einer Prince Andrew.

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