Erstellt am: 10. 10. 2011 - 16:07 Uhr
Wir waren mal Stars
"Ich weiß noch genau, wie das alles begann." (TORCH, "Kapitel 1")

Advanced Chemistry
In meinem Fall begann "alles" 1990 - da wurde mir zum ersten Mal klar, dass Hip Hop mehr als nur Rap-Musik war: Bemalte Züge, Menschen die sich wie funky Roboter zum Takt der Musik bewegen, mit Platten scratchende DJs. Ehrlich gesagt, die Faszination für diese in den 70er Jahren in verwahrlosten amerikanischen Ghettos entstandene Subkultur hat mich bis heute nicht losgelassen.
In meiner Heimatstadt Steyr hatte man, abgesehen von einem kurzen Breakdance-Hype in den 80er Jahren, von Hip Hop noch nie gehört. Dank Infos, die wir durch Radio-Beiträge von Werner Geier und Katharina Weingartner, Yo!MTV Raps, aus dem Film "Wild Style" und dem US-Magazin "The Source" erhielten, bastelten wir in der oberösterreichischen Provinz an unserer eigenen Version von Hip Hop. Und dann wurde 1993 im Nachtprogramm von ZDF die Doku "Lost in Music" ausgestrahlt.
Da wurde eine deutsche Hip Hop-Szene portraitiert, die wir zum Teil zwar bereits kannten - dank dieser Doku fügten sich aber viele Teile wie in einem Puzzle zu einem großen Ganzen zusammen. Zu sehen waren Interviews mit einem sehr jungen Eissfeld aka Jan Delay, Cora E und vielen mehr. Einer, der bei mir einen bleibenden Eindruck hinterließ, war der Heidelberger Hip Hop-Aktivist Torch.
Fremd im eigenen Land
Frederik Hahn, so sein bürgerlicher Name, hat einen deutschen Vater, seine Mutter stammt aus Haiti. In den frühen 80er Jahren entsteht in Heidelberg die erste aktive Generation einer noch sehr jungen Hip Hop-Szene. Torch ist einer von ihnen.

Torch
Als Tänzer und Graffiti-Writer lernt er Gleichgesinnte aus vielen Teilen Deutschlands und Europa kennen. Auf Jams "von Kiel bis Biel" trifft sich die Szene, um sich auszutauschen. 1985 wird Torch vom Hip Hop-Urgestein Afrika Bambaataa offiziell zum Botschafter der Universal Zulu Nation in Deutschland ernannt. Eine Verantwortung, die ihn bis heute prägt. 1987 gründet er mit Linguist, Toni L, Gee-One und DJ Mike-MD die Band "Advanced Chemistry" und beginnt seine Karriere als MC.
Als 1992 in Deutschland Asylantenwohnheime brennen und Skinheads ganze Städte terrorisieren, veröffentlichen Advanced Chemistry mit "Fremd im eigenen Land" einen Song, der die Situation aus der Sicht von Deutschen mit ausländischen Wurzeln kommentiert und dadurch medial viel Aufmerksamkeit bekommt. Sie produzieren damit einen der ersten deutschsprachigen Rap-Klassiker, basierend auf einem Loop der Intro-Musik von Spiegel TV.
Advanced Chemistry verstehen sich als Botschafter einer Hip Hop-Szene, die etwas zu sagen hat. Während sie sich auf den Spuren von Public Enemy bewegen, erobert eine Spaß-Rap-Band aus Stuttgart - die Fantastischen Vier - die deutschen Charts mit ihrem Song "Die Da". Erstmals wird in Deutschland über "Sell Out" in der Rap-Musik gestritten, die Fanta 4 werden zum Feindbild à la Vanilla Ice.
Doch auch Torch wird angefeindet. Manche sehen in ihm einen Oberlehrer, der hinter dem Deckmantel der Zulu-Nation die 4-Elemente-Theorie von Hip Hop predigt und dabei vergisst, dass das alles auch Spaß machen darf und soll. Torch nimmt keine Drogen, trinkt keinen Alkohol und tritt in der Öffentlichkeit sehr selbstsicher und seriös auf. Das gefällt nicht allen. Im Ruhrgebiet entsteht eine Spaß-Gegenbewegung zu Torch und der Zulu Nation, die so genannte Silo-Nation.

Torch
Von AC zu "Blauer Samt"
Advanced Chemistry veröffentlichen im Laufe ihrer Karriere ein paar Singles und ein Album. Danach trennt sich die Gruppe, Linguist verabschiedet sich aus der Rap-Szene, Torch und Toni L arbeiten an ihren eigenen Karrieren.
Ende der 90er Jahre erlebt Hip Hop im deutschsprachigen Raum den ersten großen Hype. Gruppen wie die Absoluten Beginner, Massive Töne und Fettes Brot füllen plötzlich riesige Konzert-Hallen. Es herrscht eine euphorische Stimmung in der Szene. Auf einmal interessieren sich große Plattenfirmen für Rapper, es werden Verträge unterschrieben und gutes Geld verdient. Doch der große Hype endet in einer großen Enttäuschung. Denn es sind nicht unbedingt die Pioniere, die die besten Deals bekommen, sondern zum Teil Witzfiguren, die aus dem Nichts auftauchen, ein paar Flops fabrizieren und schnell wieder im Nichts verschwinden.
Torch wird zwar kein Popstar im klassischen Sinn, trotzdem profitiert auch er von dem starken Interesse an Hip Hop. Er gilt als Rap-Pionier und spielt auf zahlreichen Konzerten und Festivals in Deutschland, Österreich und der Schweiz als Headliner. Vor etwas mehr als 10 Jahren erscheint dann endlich sein lange angekündigtes Solo-Album "Blauer Samt".
"Blauer Samt" ist gespickt mit Zitaten deutscher Dichter und Denker. Als Gäste lädt Torch alte Wegbegleiter wie Ebony Prince, Boulevard Bou, Toni L oder die italienische Rap-Crew "Gente Guasta" ins Studio ein. Und den jamaikanischen Reggae-Sänger Eek-A-Mouse.
Inspiriert von David Lynch's "Blue Velvet" kreiert der Heidelberger Rapper eine düstere Stimmung. Er kommentiert durchaus selbstkritisch Gewalt und Sexismus, Medienmanipulation und Kapitalismus. In "Blauer Schein" erzählt Torch eine Geschichte aus der Perspektive eines Geldscheins.
Mit "Blauer Samt" erreicht Torch sein Ziel: Er kreiert eine zeitlose Platte, die schnell vergriffen ist. Das Album bleibt bis heute sein einziges Solo-Werk. In den letzten Jahren wurden im Internet hunderte Euros für die Vinyl-Ausgabe geboten.
40 Jahre Torch
Letzte Woche hat Torch seinen 40. Geburtstag gefeiert. In Heidelberg hat er aus diesem Anlass ein einwöchiges Hip Hop-Festival kuratiert.

Torch
Und um zu beweisen, dass "Blauer Samt" noch immer eine relevante Platte ist, wurde in Zusammenarbeit mit einer großen Plattenfirma ein Re-Relase geplant. Und zwar auf Vinyl, als CD und digital. Die erste Auflage war sofort ausverkauft und musste nachgepresst werden. Wäre ich Torch, würde ich ernsthaft darüber nachdenken, ein neues Album aufzunehmen. Die Vorzeichen könnten besser nicht sein.
Ich hatte vor ein paar Wochen die Gelegenheit, in Leipzig die Vorab-Geburtstagsfeier von Torch im Conne Island-Club mitzuerleben. Gemeinsam mit Spax, DJ Mirko Machine, Main Concept, den Funkverteidigern und Fiva wurden das 20-jährige Bestehen der Location und sein Geburtstag gefeiert. Das Konzert war ausverkauft und Torch (der mit Toni L aufgetreten ist) hat bewiesen, noch immer einer der charismatischsten Rapper Deutschlands zu sein.

Alex Hertel
Heute lebt Torch übrigens in Zürich und tritt in erster Linie als DJ unter dem Namen Haitian Star auf. Er hat sich schon früher sozial engagiert (zum Beispiel bei dem Projekt Brothers Keepers) und hat nach dem großen Erdbeben in Haiti das Hilfsnetzwerk Marasa ins Leben gerufen.
Vielleicht kommt er im Zuge des "Blauer Samt" Re-Releases auch wieder einmal nach Österreich. Wir halten euch auf dem Laufenden.