Erstellt am: 30. 6. 2011 - 19:30 Uhr
Nothing was delivered
Ich bin heute ja vor allem im Zug Richtung Manchester gesessen (in Björk- und Albarn-Mission), was auch nur ging, zumal die Bahnen hier schon lange nicht mehr zum öffentlichen Sektor gehören.
Der stand hier und heute nämlich offiziell im Streik.
Wäre ich etwa aus Österreich eingeflogen, hätte ich die Abwesenheit von 70% des Grenzpersonals in Gestalt langer Warteschlangen zu spüren gekriegt. Betroffen waren aber vor allem 12.000 Schulen nebst hunderten Colleges, diversen Ämtern, darunter auch jenes, wo die Leute sitzen, die bei der Polizei das Telefon abheben, Teile der Küstenwache oder etwa die BibliothekarInnen, die mir auf der Euston Road ihre Flugblätter in die Hand gedrückt haben.
Potenziell hätten laut Guardian 750.000, laut BBC 500.000 öffentliche Bedienstete teilnehmen können, de facto aber sicher weniger, da nicht alle davon Gewerkschaftsmitglieder sind, andererseits aber wohl auch wiederum mehr als die von der Regierung heute Nachmittag in ihrer schmälernden ersten Streikbilanz genannten 100.000.

Robert Rotifer
Nach meiner Zugfahrt ging ich schnurstracks zur Presse-Präsentation zur Björk-Show, von den Demonstrationen in London habe ich also logischerweise nichts mitbekommen, abgesehen von ein paar mittelaufgeregten Tweets über sich schließende Polizeikessel am Trafalgar Square, denen ich allerdings auch nicht weniger vertraue als dem, was das Gros des Medienmainstreams uns in den letzten Tagen und Wochen zu dem Thema aufgetischt hat.
Der öffentliche Sektor, hieß es, kämpfe um seine „vergoldeten“ Pensionen. Wie, so die polemische Frage, kämen die Angestellten der Privatwirtschaft dazu, über ihre Steuern den Staats- und Gemeindeangestellten Pensionen zu finanzieren, die sie selbst schon lange nicht mehr kriegen könnten?

Robert Rotifer
PENSIONEN, verdammt.
Bitte gönnt mir ein paar Absätze lang eure Aufmerksamkeit, selbst wenn ich dieses tranigste aller Themen ansprechen muss. Ich bin zwar alt, aber nicht sooo alt, dass ich nicht selbst noch bei der bloßen Erahnung des P-Worts augenblicklich jeglichen Lebenswillen verlieren würde.
Also gut, im Schnellvorlauf: Anders als in Österreich, wo grob gesagt das Endgehalt die Pensionshöhe bestimmt, gibt es hier eine einheitliche state pension für alle. Wer mehr verdient, so die Logik, kann sich auch das Vorsorgen leisten und die Grundpension mit einer Zusatzpension aufbessern.
Das wäre an sich sehr fair (wesentlich fairer als in Österreich, wo in der Pension de facto von unten nach oben umverteilt wird).
Wenn man von der state pension bloß menschenwürdig leben könnte.
Da dieses sich aber kaum ausgeht, pflegten die sogenannten Arbeitgeber für ihre Angestellten in ihre firmeneigenen privaten Pensionskassen einzuzahlen. Einige davon versprachen Pensionen in einer vom letzten Gehalt abhängigen Höhe – das sogenannte final salary scheme.
Ihr seht schon, ich spreche in der Vergangenheit, die final salary schemes sind in den letzten Jahren im privaten Sektor nämlich fast völlig verschwunden, wie für Neuankömmlinge gar jede Pensionsvorsorge durch den Arbeitgeber überhaupt. Was insofern wenig Aufschrei hervorgerufen hat, als ohnehin kaum mehr irgendwer sein oder ihr Leben lang bei einem Beruf zu bleiben erwartet.
Dazu kam noch der Kollaps der Pensionsfonds nach dem Finanzcrash, der so manche private Vorsorge ausradiert hat.
Ergo fühlen sich Privatangestellte und Selbständige (unter ihnen auch JournalistInnen) natürlich verhohnepiepelt, wenn der öffentliche Sektor immer noch sein eigenes final salary scheme hat.
Die Regierung hat das gerochen, will nun all diese Vereinbarungen abschaffen und durch eine über den Lebensgehaltsdurchschnitt errechnete Pension mit um drei Prozent höheren Beitritten und höherem Antrittsalter (66 Jahre ab 2020) einführen.
Klingt immer alles noch trocken, geb ich zu, betrifft aber einen Haufen Leute, die ja auch nicht auf einer Insel leben, das heißt, sie tun dies im wörtlichen Sinne zwar schon, aber eben nicht auf einer anderen als ihre FreundInnen und Verwandten, die die Divergenz zwischen der auf Extrembeispielen (wie übrigens den von der vorgeschlagenen Reform ausgenommenen Parlamentsabgeordneten) beruhenden Legende von der goldenen Beamtenrente und der Realität selbst miterleben.
Insofern ist es nicht ganz verwunderlich, dass die Strategie der Regierung, Privatangestellte gegen BeamtInnen auszuspielen, nicht so recht aufgegangen zu sein scheint.
Dazu kommt noch, dass die realen Einkommen in Großbritannien angesichts der hohen Inflationsrate im rasanten Fall begriffen sind. Man spricht allseits vom schlimmsten Wirtschaftseinbruch seit dem zweiten Weltkrieg, und das will im Falle Großbritanniens was heißen.
Kaum ein Tag vergeht ohne Hiobsbotschaft, vom Schließen der von Terence Conran begründeten Möbelkette Habitat über den Untergang der Zuckerbäckerkette Thorntons bis zu den 15.000 Jobs, die bei der seit dem Crash immer noch großteils dem Staat gehörenden Lloyds-Bank eingespart werden sollen.
Ein solches Klima schafft bei aller Entsolidarisierung der Gesellschaft doch auch eine gewisse grundsätzliche Sympathie für Leute, die ihre Stimme erheben, stellvertretend für ein kollektives, brodelndes Angepisstsein (was ein Sinnbild... ).

Robert Rotifer
Wenn die Gewerkschaften also (übrigens ohne Unterstützung der Labour Party) mit dem großen Arbeitskampf drohen, dann meinen sie das sicher ernst und stehen damit weniger im Eck, als der Medienmainstream uns einreden will.
Aber natürlich vertreten sie weder jene, die am allerhärtesten getroffen werden, wie die unorganisierte unsichtbare neue Dienerklasse, Leute wie die SaubermacherInnen im Buckingham Palace oder die StudienabgängerInnen, noch jene, die zwar nicht gewerkschaftlich organisiert sind, sich aber auch nicht leisten können, ihre berufliche Karriere als Gratisarbeitskraft für das Establishment zu beginnen.
Wie meine reibungslose Bahnfahrt heute trefflich illustriert hat, reicht die schwindende Macht der Gewerkschaften nach Jahrzehnten der Privatisierungen, liberalisierter Arbeits- und verschärfter Streikrechte für sich alleine längst nicht mehr aus, um die Regierung ernsthaft unter Druck zu setzen.
Dazu braucht es ein Erkennen gemeinsamer Interessen weit über die alten Organisationsstrukturen hinaus.