Erstellt am: 19. 6. 2011 - 00:14 Uhr
Schwarze Tage in der White City
Grundsätzlich muss man ja nicht alles dem nostalgischen Instinkt überlassen.
Die Sehnsucht nach einer Zeit, als die Zukunft noch die Zukunft war und die Leute sich scheinbar sich mit beneidenswert naiver Wucht in ihre Utopien werfen konnten, auch gern Retrofuturismus genannt, ist allerdings schon ziemlich unwiderstehlich.
Wer sich dagegen für immun hält, sollte sich fragen, warum sein/ihr iPhone aussieht die Miniatur des Deko-Objekts einer Siebziger-Jahre-Quiz-Show.
Seit Jahrzehnten ist der Retrofuturismus die Rettung des in einer ewigen Pendelbewegung zwischen abgelutschter und hartkantiger Ästhetik gefangenen Produktdesigns.
Aber die krawattenlose, dreitagebärtige Führung der BBC hat davon wohl nichts mitgekriegt und sich in der Verblendung ihrer Spar- und Dezentralisierungswut entschlossen, ihre größte Kathedrale des Retrofuturismus an den nächstbesten Bestbieter zu verscherbeln:
Wo die Sex Pistols einst "fuck" sagten
Das Television Centre in West-London, vor kurzem erst denkmalgeschütztes Symbol öffentlich-rechtlicher Medienmacht, Traumfabrik der Sofaschläfer, ja der historische Schauplatz, an dem die Sex Pistols einst „fuck“ gesagt haben, wird verkauft, die Produktion des BBC-Fernsehens auf die Regionen des Vereinten Königreichs verteilt.

Robert Rotifer
Nun ist es sicher keine schlechte Idee, Sendungen außerhalb des Wasserkopfs London herzustellen, gerade wo die BBC in ihrer historischen (durch gelegentliche Hyperkorrektur in der Drama-Abteilung erst recht bestätigten) Diskriminierung regionaler Akzente so weit ging, dass ihr Ton sprichwörtlich zur Definition der britischen Hochsprache wurde.

Robert Rotifer
Dass die Corporation auf diese Weise ihre Blase verlassen wird, scheint angesichts der Pläne für eine erst recht in sich geschlossene Media City in Salford nahe Manchester allerdings unwahrscheinlich.
Und natürlich ist das Pendeln der Redaktionen zwischen dem politischen Zentrum Westminster und dem Norden Englands ein vorprogrammierter organisatorischer Alptraum.
Man könnte entgegnen, das sei schon beim jetzigen Standort des Television Centre nicht viel anders.
Gebaut 1968 im goldenen Zeitalter der brutal durch London gefrästen Stadtautobahnen, steht der aus Luftperspektive fragezeichenförmig erscheinende Komplex nahe dem Westway auf halbem Weg zwischen Westminster und Heathrow, wo sich der Pendlerverkehr auf Stelzen im Schneckentempo über die halbe Stadt wälzt.

Robert Rotifer
Von innen hab ich das Television Centre nur ein paar Mal gesehen, wenn zum Beispiel die eine oder andere befreundete Band bei Jools Holland oder Jonathan Ross aufgetreten ist.
Das in natura - ohne Weitwinkel - erstaunlich kleine Studio, wo die Bühnen für „Later..“, umgeben vom Publikum im Kreis aufgestellt sind, befindet sich im Erdgeschoß des runden Backsteinbaus hinter dem Vorgarten.
Auf dem Weg von dort zum Green Room oder vom Green Room zum Ausgang hat sich schon so manch ein angetrunkener Popstar hoffnungslos verlaufen.
Im Fall eines Überfalls würde die labyrinthartige Anlage des Television Centre mit seinen Kreisgängen, verschachtelten Ober- und Untergeschossen eindringende Terroristenbanden zur erschöpften Aufgabe zwingen.
Diverse Anbauten und das hässliche Neunziger-Jahre-BBC-Logo haben die architektonische Integrität des Baus zwar längst korrumpiert, aber ein Bürohaus, wo es Türen mit roten Lichtern dran gibt, hinter denen sich unverhofft ganze Theater auftun, hat immer noch was Magisches, ganz zu schweigen von den geschwungenen Glasfronten, hinter denen man Leute mit Manuskripten in der Hand durch die Gänge eilen sehen kann.
Die verlorene Kraft der Kantine
In der Zeit des Outsourcing gilt die Idee einer solchen Rundfunkzentrale gemeinhin als Anachronismus.
Ich habe ja selbst viel Zeit meines Lebens in solchen Anstalten verbracht, im mir trotz seiner seelenzerstörenden Aura immer noch grundsympathischen Wiener Funkhaus, in der zusammengewürfelten Wucherung des Küniglberg, und später im Broadcasting House des BBC Radio am Portland Place, das in den letzten 15 Jahren hinter seiner intakten Art Deco-Fassade völlig zu Tode parzelliert wurde (keine Spur mehr von George Orwells Room 101 oder Delia Derbyshires Radiophonic Workshop).
Die wahre Stärke dieser Gebäude lag immer in ihren Kantinen verborgen, dort, wo Redaktionen untereinander kommunizierten und herrlich hirnrissige Ideen plötzlich eine zwingende Schlüssigkeit erlangten.
Wo das Produzieren von Sendungen sich mit thesenschwingendem Sendungsbewusstsein verband.
Und wo diese Thesen, wenn sie nichts taugten, unter gleichzeitiger Konsumation des Verpflegungsbons gnadenlos abgeschlossen wurden (ja, ich verkläre vermutlich...).
Im Zeitalter der eingekauften Sendungsformate und Außer-Haus-Produktionen gibt es dazu kaum Gelegenheit mehr, insofern ist der Verlust des Television Centre also nur eine symbolische Vollendung einer längst vollzogenen, strukturellen Veränderung.
Die tatsächliche Ironie des Auszugs der BBC zur Belebung der britischen Regionen ist ja, dass sie genau das in ihrer Londoner Nachbarschaft nie geschafft hat. Das Television Centre liegt an einer jener für diese Stadt so typischen Scheiden zwischen ganz arm und unvorstellbar reich.
Jenseits des Shepherd's Bush Roundabout prangen die Paläste von Holland Park, diesseits hat sich mit dem Westfield Shopping Centre gerade noch vor dem Crash 2008 ein Luxuseinkaufszentrum nach dem Geschmack neureicher Fußballer breitgemacht.

Robert Rotifer
Ein bisschen nördlich davon, auf der anderen Seite der Wood Lane, stehen die Gebäude der BBC, und direkt dahinter beginnt eine der rauesten Sozialbausiedlungen Londons, der White City Estate - benannt nach den längst niedergerissenen, mit weißem Marmor ausgekleideten Ausstellungspavillons der Edwardianischen Ära in der Nachbarschaft, bekannt unter anderem durch einen Pogues-Song (über das 1985 abgerissene White City Stadium für Hunderennen) bzw. als Handlungsschauplatz des gleichnamigen, letzten guten Pete Townshend-Albums aus demselben Jahr.

Robert Rotifer
Wie jener damals schon auf seinen Linernotes bemerkte, hat die Benennung der Straßen der Siedlung nach den Kolonien des zerfallenen Britischen Empire einen ironischen Klang angenommen (immerhin wurde eine Sackgasse hinter der South Africa Road inzwischen in Mandela Way umbenannt).

Robert Rotifer
Die 1936 nach dem Vorbild kontinentaler Gemeindebauten errichtete Anlage strahlt dank ihren langen Balkons bei aller Verwahrlosung und Satellitenschüsselverkrustung zwar durchaus eine gewisse ozeankreuzerartige Eleganz aus, die konservative Gemeindeverwaltung von Hammersmith & Fulham hat aber Pläne, sie abzureißen - nicht zuletzt, um auf diesem Wege die unerwünschten, minderbegüterten BewohnerInnen loszuwerden.
Die White City als Kombination aus öffentlich-rechtlichem Medientempel und Sozialbaufestung könnte also bald schon Geschichte sein. Von den großen Utopien der Zwischenkriegszeit und der Sechziger Jahre wird in diesem Winkel Londons dann nichts mehr übrig sein.
Vielleicht liegt der nostalgische Instinkt ja doch nicht so falsch.