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6. 6. 2011 - 13:02

Das Ende der Europäischen Union?

In den Medien wird das Scheitern der Union herbeigeschrieben, doch: Europa ist ein unvollendetes Projekt, seine Krise gleichsam sein Motor.

von Johannes Pollak

Johannes Pollak

Johannes Pollak

Johannes Pollak ist Professor für Politikwissenschaft an der Webster University Vienna sowie Leiter der Abteilung Politikwissenschaften am Institut für Höhere Studien.

Selbst unaufmerksamen Zeitungslesern ist in den letzten Monaten nicht verborgen geblieben, dass sich Europa in einer Krise befindet. Probleme mit der gemeinsamen Währung, Divergenzen in der außenpolitischen Koordination der Mitgliedstaaten, Stillstand in der Energie- und Klimapolitik. So oder so ähnlich lauten die Schlagzeilen.

Angetrieben von der griechischen Misere scheint sich ein medialer Konsens ergeben zu haben, hysterischer Aufgeregtheit, nationalen Ressentiments und Frustration breiten Raum zu geben. Gehört wird nur mehr, wer durch noch schrillere Töne auffällt. Und was bietet sich besseres an, als das Ende der Union zu prophezeien? Oder zumindest eine radikal andere Union?

Europa ist ein unvollendetes Projekt, seine Krise gleichsam sein Motor. Die Krise entsteht aus Dissens, die Integration ist dessen Lösung. Dabei gibt es keine gemeinsame Vorstellung von der Finalität Europas. Diejenigen, die einen Bundesstaat wollen, haben genauso recht, wie diejenigen, die die Souveränität der Nationalstaaten nicht aufgeben wollen.

Allerdings hat gerade das letzte Modell seine begrenzte Problemlösungsfähigkeit im 20. Jahrhundert zweimal eindrücklich vorgeführt. War in den Anfangsjahren der Integration das Motto „Nie wieder Krieg“ noch ein ausreichender Legitimationsgrund für die „immer engere Union der Völker Europas", so ist heute der Willen zu Solidarität innerhalb des Kontinents endend wollend. Zu viele setzen die Union heute gleich mit einem Selbstbedienungsladen nationaler sogenannter Eliten.

Siehe dazu die beliebtesten EU-Mythen

Wer kennt sie nicht, die Geschichten über die missbräuchliche Verwendung von Fördergeldern, unsinnige Richtlinien über Gurkenkrümmung und Decolleté-Verordnungen, die Brüsseler Monsterbürokratie und die Regelung von Traktorsitzen. Und wie praktisch: all diese Beschwerden sind uns auch aus dem nationalstaatlichen Rahmen bekannt, egal ob Österreich, Frankreich, Deutschland oder Italien. Sie sind gleichsam Teil eines Mythos politischer Unzulänglichkeit und eines ubiquitären Generalverdachts: Wo Politik, da Missbrauch. Aber sie haben noch etwas gemeinsam: Sie entbehren zumeist jeglicher Fakten und es lässt sich trefflich Stimmung machen mit ihnen.

Wer ist die Union?

Europa Flagge

Radio FM4

Keine Frage: Die Europäische Union hat sich schon einmal in besserer Verfassung und Stimmung gezeigt. Aber wen meinen wir eigentlich, wenn wir von der Union sprechen? Sind das die im Rat versammelten nationalen Minister? Wohl kaum, denn sie treffen lediglich einen sehr kleinen Teil der Entscheidung - noch dazu zumeist im Konsens.

Meinen wir die Europäische Kommission, deren Vertreter von den Nationalstaaten entsandt werden, die, einmal in Brüssel, ihre nationalen Wurzeln vergessen sollen? Wohl kaum, denn diese treffen wenige Entscheidungen, sie legen vor, was im politischen Verhandlungsprozess zwischen Exekutive, Legislative, zivilgesellschaftlichen Vertretern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern akkordiert wurde.

Meinen wir die Mitglieder des Europäischen Parlaments, die jenseits des muffigen Klubzwangs debattieren können und mit dem Vertrag von Lissabon über echte Entscheidungsgewalt, in einem fein austarierten System mit dem Rat der Minister, verfügen?

Meinen wir die 27 Richter des Europäischen Gerichtshofes, die über die korrekte Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts wachen? Wohl kaum, denn deren Entscheidungen werden auch ohne Sanktionsgewalt der Union weitgehend akzeptiert.

Wie aber verhält es sich mit dem Europäischen Rat, an dessen Spitze nunmehr ein Präsident namens van Rompuy steht und der sich erst unlängst in einem europaweit publiziertem Zeitungsartikel erstaunlich weltfremd gezeigt hat? Der Europäische Rat, gegründet 1974, um die Blockaden der europäischen Politik zu überwinden, versammelt die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und ist heute selbst zum größten Hindernis für eine Reform der Union geworden.

Nicht "Brüssel" verhindert eine z.B. sinnvolle Energie- und Klimapolitik (wer das glaubt, dem sei ein Blick in die Strategiepapiere der Kommission empfohlen), sondern die Sprecher nationaler Souveränität in der Form der Staats- und Regierungschefs.

Lokale Lösungen für globale Probleme?

Glaubt jemand wirklich ernsthaft, Energie- und Klimafragen können nationalstaatlich geregelt werden? Glaubt wirklich jemand jenseits ewig Gestriger, dass Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert noch lokal gemacht werden kann? Ganz im Gegenteil: All die Miseren unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems sind im Mangel an Kooperation und nicht im Mangel an staatlicher Souveränität begründet. Wer "unser Geld für unsere Leute" brüllt, nimmt Leid jenseits des Tellerrandes in Kauf. Aber natürlich ist es wesentlich einfacher, in einer Zeit in der Youtube-Clips als Maßstab für die zumutbare Aufmerksamkeitsdauer herhalten, simple Phrasen zu dreschen.

Nur: Politik ist nicht simpel. Der Ausgleich von gleichermaßen legitimen Interessen bedarf der guten Überlegung. Dass die von uns gewählten Repräsentanten dieser guten Überlegung anscheinend immer weniger gerecht werden können, liegt teilweise in der Komplexität von Politik begründet.

Stahlquoten europaweit zu regulieren, wie es die Aufgabe Anfang der 1950er Jahre im Rahmen der Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft der Fall war, ist einfacher als die so verschiedenen außenpolitischen Traditionen der Mitgliedstaaten zu vereinen oder global agierenden Banken sinnvolle Regeln vorzuschreiben. Wer sich anmaßt, Patentlösungen für so verschiedene Phänomene wie den arabischen Frühling, die Eurokrise, Agrarsubventionen, den Mittleren Osten und die globale Klimakatastrophe im Eiltempo anbieten zu können, ist ein Scharlatan.

Der Mangel an guter Überlegung liegt aber auch begründet in einem erschreckenden Ausmaß an Ignoranz politisch Verantwortlicher. Und an einer Erwartungshaltung, die meint, jedes Problem lasse sich auch lösen, ohne dass irgendjemand auf Altgewohntes und scheinbar Verdientes verzichten muss.

Die Frage "Wozu Europa" wird heute zumeist hilflos mit einem Verweis auf die jüngst anscheinend unter Druck geratene Reisefreiheit (die Mühe den Kommissionsvorschlag, der von einer weiteren Europäisierung spricht, ausführlich zu lesen, haben sich anscheinend die Wenigsten gemacht, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Union auch ohne Schengen funktioniert - nur wesentlich unbequemer. Wenn aber die Europäer meinen, selbiges für angeblich mehr Sicherheit eintauschen zu wollen, warum nicht?), die gesunkenen Transaktionen bei grenzüberschreitendem Handel und die Befreiung vom lästigen Geldumtausch beantwortet.

Zwischen Ende der Union und "Alles ist wie immer"

Keine Frage, die Europäische Union hat unser Leben in vielen Bereichen einfacher und sicherer gemacht - von grenzüberschreitenden Lebensmittel- zu Umweltkontrollen, von der Durchsetzung und Bewahrung sozialer Standards (was kann die EU dafür, dass z.B. in Österreich immer noch eklatant die Bestimmung gleicher Lohn für gleiche Arbeit verletzt?) bis zu Antidiskrimierungsbestimmungen. Aber reicht dies als Legitimation für ein Projekt, das sich in Richtung Solidargemeinschaft entwickeln muss? Wie kann ein Mitteltransfer von Wohlhabend zu Arm zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten begründet werden? Wer Griechenland in den Staatsbankrott schicken will, muss erklären, warum nicht Kärnten auch.

Letztlich bleibt die Frage, was man von dieser Union will, welche Mittel wir (und nicht lediglich die Staats- und Regierungschefs) ihr für die Erreichung unserer Ziele geben, und was die Alternative zur Integration ist. Die Europäische Union wäre das Forum für die offene Debatte solcher Fragen. Dazu muss man auch die Argumente der Gegner der Union ernst nehmen. Was man allerdings nicht ernst nehmen kann, sind politische Clowns, die bar jeder praktischen Klugheit und jenseits jeglichen politischen Anstands Politik als Selbstbedienungsladen und Befriedigung persönlicher Eitelkeiten betreiben.

Aussagen über die nichtlineare Veränderung der Union sind dabei ebenso entbehrlich, wie selbstverständlich, denn sie sind Teil der Europäischen Einigungsgeschichte. Wer 1985 schlafen gegangen ist und 20 Jahre später aufgewacht ist, würde die Union ebenso wenig wiedererkennen, wie jemand der dasselbe Experiment 2011 unternimmt. Darüber kann man sich nur freuen, denn Stillstand würde lediglich die Prolongierung von Dissens bedeuten.

Die zu Beginn des Artikels genannten Schlagzeilen gab es übrigens alle schon in den 1970er Jahren: die erste Ölkrise 1973 führte nicht wie erhofft zu einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik, das Scheitern des sog. Werner Plans 1970, der eine Währungsunion bis zum Jahr 1980 einzurichten, brachte Zweifel bezüglich einer ökonomischen Vertiefung und die Uneinigkeit der neun Mitgliedstaaten anlässlich des Yom Kippur Krieges 1973 warf erneut Fragen der politischen Handlungsfähigkeit Europas auf. Genug Stimmen prognostizierten damals das Ende des europäischen Einigungsprojektes.

The "mood" of society

Professor John L. Casti is a Senior Research Scholar at the International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg, just outside Vienna, where he works on the development of early-warning methods for extreme events in human society. He has also written a number of books including, most recently "Mood Matters". In 2006, Casti told a conference of futurologists that if he fell asleep that day and slept for 20 years, one of the many things he would not expect to see when he woke up would be the European Union. John Casti argues that social events are biased by the ‘mood’ of society, and told Joanna Bostock the signs of major change within the EU were already there years before the current crisis.

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