Erstellt am: 10. 4. 2011 - 15:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (14)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 3. April
■ Ich habe mich in den weiblichen Avatar der "Casino Admiral"-Werbung verliebt. So, jetzt ist es raus.
■ Die Versuchung ist allgegenwärtig.
Eine ganze Stadt scheint ohne Unterlass horrende Massen an Konfekt zu spachteln. Wohl nur scheinbar sind unzählige Verzichts-Tester unterwegs, die mir rund um die Uhr Teller mit Rouladen oder Bonbonnieren unter die Nase halten.
Ich bleibe stark!
Allerdings muss ich bereits am dritten Tag des Monats erkennen, dass es gar nicht so ohne ist, süße Aromen konsequent von der eigenen Zunge zu verbannen.
Montag, 4. April
Tag für die Aufklärung über Minengefahr und die Unterstützung von Antiminenprogrammen. Das traditionelle Schwedenbomben-Wettessen muss heuer ausfallen.
■ Meine Pollenallergie würde mich kaum stören, wenn sie nicht beträchtlich verklebte, stark juckende Augen zur Folge hätte. An sich ist es nämlich ein schönes Gefühl, zu niesen und einem Orgasmus nicht unähnlich. Der gesellschaftsfähige petite mort zaubert ohne Schnörkel und Vorspiel für eine Sekunde ein überwältigendes Gefühl in den Schädel. Manchmal ejakuliert man dabei auch.
Da ich mit dem photischen Niesreflex gesegnet bin, also häufig niesen muss, wenn ich in starkes Licht sehe, kann ich es mir zwischendurch sogar selbst besorgen.
Dienstag, 5. April
■ Nach Unstimmigkeiten in der Neigungsgruppe Verzicht streiche ich gerne auch Honig- und Marmeladebrote. Esse ich ohnehin nie.
Somit sind Obst und Fruchtsäfte ohne Zuckerzusatz in diesen Wochen die einzige Gelegenheit, süße Geschmäcke zu genießen.
■ Es klingelt.
Panik!
GIS? Zeugen Jehovas? Rotes Kreuz? Atomgegner? Atomlobby? Groupies?
Die letzte Möglichkeit reizt genug, um die Türe zu öffnen.
Doch es ist die Post und bringt die letzte Woche bestellten Insekten. In einem unerwartet großen Karton übergibt mir ein irritiert wirkender Postbote dreißig Riesenheuschrecken, fünfzig Riesengrillen und eine Handvoll Mehlwürmer. Seine Irritation erschließt sich mir schnell, als ich den Karton schüttle und die Dutzenden noch sehr vitalen Tiere einen tadellosen Popcorn-Topf-Sound generieren.
Da mein Kühlschrank nicht großzügig genug dimensioniert ist, muss ich die Insekten ins Schmid Hansl tragen, wo sie über Nacht einen schonenden Erfrierungstod sterben dürfen.
■ Name: Marc Carnal
Hobbys: Mittelalter-Rollenspiele, Teletext, Fistfucking, Untreue gegenüber den eigenen Prinzipien.
Prinzipien-Beispiel: Es ist entbehrlich, unökonomisch, verantwortungslos und zeugt von fehlender Urbanität, in derselben Stadt zu leben und zu arbeiten und ein Auto zu besitzen.
Untreue-Beispiel:

marc carnal
Das ist Rüdiger!
Das Schicksal stellte ihn just in dem Moment vor die Türe des Cafés Schmid Hansl, als ich mit dem Wirten, Herrn Josef, den Appeal eines sommerlichen Road Trips mit einem Kraftfahrzeug in seinen letzten Zügen erörterte.
Prompt übermannte uns die Intuition und wir kauften uns zusammen für einen Spottpreis einen vierunddreißig (in Worten: vierunddreißig) PS starken VW Käfer, der uns auf so manchem Abenteuer in diesem Sommer begleiten soll, und tauften ihn Rüdiger.
So wird man innerhalb weniger Minuten zum Oldtimer-Besitzer.
Hätten wir das auch erledigt.
Mittwoch, 6. April
■ In meiner Wohnung ist es meistens totenstill. Das fällt mir aber nur dann auf, wenn sich Gäste wundern, dass kein akustischer Hintergrund das Beisammensein veredelt.
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marc carnal
Überhaupt höre ich ausgesprochen selten Musik. Ich war auch noch nie im Besitz eines portablen Wiedergabegeräts, weil ich dabei erstens immer fürchten würde, seltsame Telefonate und Gespräche von Fremden zu verpassen und auch Angst hätte, es würde zu viel Schall aus meinen Kopfhörern in die Umwelt dringen.
Die Bekanntschaft mit einigen Menschen, die Musik in ihrer ganzen Vielfalt tatsächlich lieben und häufig auch selbst produzieren, hat mich gelehrt, dass jene, die sich wirklich für Musik interessieren, sie recht selten, dann aber aufmerksam konsumieren. Hintergrundklänge werden von ihnen eher als Belästigung denn Stimulans empfunden.
Wer gerne fürstlich speist und Nahrung nicht primär als Mittel zur Sättigung empfindet, wird auch nicht auf Rolltreppen Kartoffelsnacks knuspern oder an der Ampel Pizzaschnitten verschlingen.
■ Das Ron Tyler Archiv klärt fundiert wie immer die in den letzten Wochen aufkeimende Grundsatzfrage "Atomkraft - Ja oder Nein?"
■ Gar nicht so einfach: Tipps zur Zubereitung von Grillen googeln.
Donnerstag, 7. April
Weltgesundheitstag. Kein Problem ohne Naschwerk.
■ Kollege Wurm hat schon ein halbes Dutzend Einkaufszettel unbekannter Provenienz gefunden, ich noch keinen einzigen. Ein Rätsel. Schreibt er sie selbst?
Nach wie vor möchten wir unsere Kollektion vergrößern, deshalb sei die Leserschaft an dieser Stelle zum wiederholten Male aufgefordert, mir in Einkaufswägen, an Kassen oder auf Böden gefundene Listen zukommen zu lassen.
■ Wolfgang Herrndorf – „Tschick“: Sicherlich kein schlechtes Buch. Dieses Prädikat fließt mir glaube ich zum ersten Mal aus der Feder, aber: Urlaubslektüre.
Man muss sich bei "Tschick" nicht ärgern über Ungereimtheiten, Fehler, Holprigkeiten oder stilistische Katastrophen, es liest sich flüssig, der vierzehnjährige Ich-Erzähler ist überraschend authentisch dargestellt, manche Stelle ist durchaus komisch und der eine oder andere Handlungsbogen recht originell, aber: Es fehlt der Zauber, der wirklich große Literatur ausmacht.
Offensichtlich brauchen und spüren diesen Zauber die allerwenigsten. Oder, etwas gütiger formuliert: Dieser Zauber kennt verschiedene Ausformungen und Kriterien.
Ich nehme Romanempfehlungen selten und skeptisch an. Schließlich streift der gedachte Buch-ToDo-Stoß in meinem Schlafgemach demnächst die Decke. Wird einem allerdings ein Werk von jemandem ans Herz gelegt, dessen literarische Hausgötter sich teilweise mit den eigenen überschneiden, ist man gerne zu Ausnahmen bereit, um dann erkennen zu müssen, dass die Ansprüche an Literatur mannigfaltig sind und sich selten mit dem decken, was man selbst von großen Schriftstellern erwartet.
Freitag, 8. April
■ Mir liegt der Dialog mit der katholischen Kirche am Herzen. Vor allem, wenn es um Forderungen bezüglich der Kirchensteuer geht, die ich nicht zahlen will.
■ Eine erste Insekten-Testzubereitung:

sonja merkl

sonja merkl

sonja merkl

sonja merkl

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Beide Delikatessen schmecken ausgesprochen unspektakulär. Die exklusive Kost ist ein willkommenes Gimmick, um Gäste anzulocken und verliert nach dem ersten Bissen in das schale Chitin genug an Kitzel, um sich fürderhin wieder hauptsächlich auf gemeinschaftlichen Alkoholkonsum zu konzentrieren.
Nächste Woche folgt der Erstversuch mit Mehlwürmern.
Samstag, 9. April
■ Wenn es nicht so peinlich wäre, würde ich an dieser Stelle öffentlich zugeben, dass ich erst jetzt den Titel des Elvis-Songs „Return to Sender“ richtig verstanden habe und bisher eigentlich von einem lyrischen Ich ausgegangen war, das zu seiner Geliebten Senter zurückgehrt.
So muss ich das aber leider verschweigen und bringe die „Misheard Lyrics“-Chronisten um ein unrühmliches Beispiel.
■ Ohne Süßspeisen hat man nicht drei-, sondern fünfmal pro Tag Appetit auf füllende Nahrung.
■ „Okeeeeeeeeeee?“
(Reaktion von vierzehnjährigen Mädchen, wenn sie die Markscheide ihres Ironieverständnisses erreicht sehen oder einen Witz nicht begriffen haben)