Erstellt am: 19. 2. 2011 - 14:13 Uhr
The King of Limbs
Am vergangenen Montag machte eine britische Band vielen Menschen ein Valentins-Geschenk, das mit ekligem Sekt, gutgemeinten Abendessen oder aufgelegten Rosen nichts gemein hatte. Die beste Nachricht seit der ägyptischen Revolution. Radiohead würden ein neues Studioalbum veröffentlichen, ihr insgesamt achtes, nicht irgendwann, sometime this year oder soon, sondern very soon, fünf Tage später nämlich, also heute.
Kurzfristig entschied die Band, den Download sogar noch einen Tag früher freizuschalten.
So eine Nachricht muss man erst einmal verarbeiten. Sämtliche Social-Network-Kanäle wurden überflutet, die Radiohead-Website lahmgelegt, ihr Name im Laufe der Woche angeblich doppelt so oft gegoogelt wie Lady Gaga und Justin Bieber.
Der König der Äste
Der Titel des Albums bezieht sich angeblich auf eine tausend Jahre alte Eiche im Wiltshire's Savernake Forest, in dessen Nähe die Band Teile ihres letzten Albums aufgenommen hat
Wie schon sein Vorgängeralbum "In Rainbows" ist "The King of Limbs" zuallererst als Download erhältlich, wenn auch nicht für Bezahlung nach eigenem Ermessen, so doch um den fairen Preis von 7 bzw. 11€ für die mp3- oder wav-Version. Haptisches gibt es im regulären Handel ab Ende März, die aufwändig gestaltete Vinyl-Edition wird Anfang Mai verschickt: neben zwei durchsichtigen 10"-es enthält sie eine CD, mehrere große Kunstdrucke und 625 (!) "tiny pieces of artwork", auf die man ebenso gespannt sein darf. "Newspaper album" nennt das die Band. Verpackt wird das Paket - ganz nach den Prinzipien der Band - in eine Hülle aus biologisch abbaubarem Plastik.
Der Hype kennt kein Ende: Eine Fake-Review, Coverparodien, Video-Mashups, Live-Blogging am Tag der Veröffentlichung, erste hitzige Diskussionen.
Produziert wurde "The King of Limbs" wieder von dem Produzenten ihres Vertrauens Nigel Godrich.
Die Trackliste des Albums
1. Bloom
2. Morning Mr Magpie
3. Little By Little
4. Feral
5. Lotus Flower
6. Codex
7. Give Up The Ghost
8. Separator
37 Minuten Spielzeit, das kürzeste Radiohead-Album von allen. Zwei der Songs, Morning Mr Magpie und Lotus Flower, hatte die Band vorab bereits live performt. Ersteres war außerdem in einer akustischen Version bereits in einem der Radiohead-Kurzfilme ihres Internet-TV-Kanals zu hören, welche auf der DVD The Most Gigantic Lying Mouth Of All Time gesammelt erschienen sind. Zu zweiterem (wenngleich musikalisch eher unscheinbar) veröffentlichte man zeitgleich zum Tag des Erscheinens von "The King of Limbs" einen Videoclip:
So weit so gut. Wie das Album klingt? Ersten Hör-Eindrücken nach kann man über "The King of Limbs" folgende Beobachtungen festhalten: Grundlegend neu, anders, revolutionär ist "The King of Limbs" nicht (dass man diesen Anspruch auch nicht an jede Platte einer Band/eines/r Künstler/in haben muss sei an dieser Stelle hinzugefügt, um etwaigen Diskussionen vorzubeugen - eine Beobachtung ist es allemal). Organische Polyrhythmen starten die Platte und treiben die ersten Nummern an. Thom Yorke intoniert frei in gewohnter Manier, wechselt bald zur charakteristischen Kopfstimme. Auffällig ist vor allem eine sphärische, geisterhafte Grundstimmung, die viele Songs durchzieht. Die Zeiten als Gitarren-Band haben Radiohead ja schon länger hinter sich gelassen, und auch hier bekommt die Gitarre praktisch das ganze Album hindurch lediglich eine melodiegebende Funktion, nicht selten wird sie völlig außer Acht gelassen. Das shuffelige "Feral" ist mit seiner nervösen Rhythmik und den minimalen Stimmsamples das vielleicht zeitgeistlichste Stück des Albums, das eine durchaus deutliche Verbindung zu aktuellen Dubstep- und vor allem Post-Dubstep-Ästhetiken des Vereinten Königreichs zieht.
Christian Stiegler stellt sich die Frage: Warum "The King of Limbs" sogar trotz musikalischer Reife für Radiohead zum Problem werden könnte?
Je weiter fortgeschritten, desto intensiver, das heißt langsam-getragen-durchdringender werden die Stücke. "Codex", laut ersten Internet-Foren-Beobachtungen der erste heimliche Balladen-Hit des Albums, wird getragen von Yorkes Piano, unterlegt mit einer kaum hörbaren, sanft pulsierenden Kickdrum, ein Herzschlag unter Worten wie "Slide your hand / Jump off the end / The water's clear / And innocent" - das ist einer dieser Radiohead-Songs, für die es trotz Piano, Streichern und Falsettstimme nur ein Wort zu geben scheint: erhaben. Allgemein ist das Album soundästhetisch wohl seinem direkten Vorgänger "In Rainbows" am nächsten. Man wird noch mehr Zeit brauchen, viel mehr, um dieses Album in das Gesamtwerk von Radiohead einordnen zu können.