Erstellt am: 16. 1. 2011 - 15:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (2)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
9. Jänner
■ Post von einer Familienforscherin aus Osnabrück. Sie fragt mich, ob mein Nachname aus Dinklage/Lohne im Kreis Vechta komme und ob ich mir vorstellen könne, dass er sich von Kardinal ableite.
In meiner Antwort, verfasst in einer rätselhaften Spontan-Freundlichkeit, erkläre ich recht detailliert, dass der Name aus Frankreich stamme - ein Gefolgsmann Napoleons hatte sich nach dem (für ebenjenen) vernichtenden Russlandfeldzug in der französischen Schweiz niedergelassen - und etymologisch mit Kardinälen eher spinnefeind sei, sich vielmehr vom lateinischen carne, Fleisch ableite, weshalb Angelsachsen sich ob meines Nachnamens auch gerne amüsieren, der auf Englisch fleischlich, sexuell, körperlich bedeute und den Titel so manchen Partnerschafts-Simulations-Films veredle.
Die Familienforscherin antwortet mir daraufhin, ich hätte absolut Recht. So leicht schlägt nebenbei betriebene Amateur-Recherche also Professionalismus…
■ Aus dem Duden der deutschen Idiomatik:
“Mein Autoschlüssel ist in den Gully gefallen - Scheiße im Tropetenrohr!“
■ Erste Nervositäten in der Interessensgemeinschaft Verzicht. Nach Woche eins, die reinigend und erholsam war, haben meine Mitstreiter und ich nun vermehrt Lust auf ein Gelage, routiniert getarnt als „netter Abend“. Der Verzicht wird also langsam ein tatsächlicher.
Angedachten, ansonsten wohl der Berauschung dienenden oder zumindest dazu führenden Veranstaltungen und Verabredungen ins Auge blickend werden erste Bedenken geäußert, wie „das wohl wird“. Wiewohl man durch die Abstinenz nicht zittert wie ein Fliederbusch (Warum immer Espenlaub?) oder unkonzentriert wird, sollte man sich spätestens jetzt eingestehen, in sozialer Hinsicht Alkoholiker zu sein, weil man sich gewisse Konstellationen oder Unternehmungen in gänzlicher Nüchternheit erst einmal ausmalen muss. Bei einem kürzlich absolvierten Abend bei Kollegen Wurm stellten wir etwas überrascht fest, dass wir wohl noch nie einen gemeinsamen Abend, an dem keine Arbeit anstand und niemand einen Katarrh auszukurieren hatte, freiwillig mit Tee und Bienenstich zubrachten. Es soll verschwindend kleine Teile der Gesamtbevölkerung geben, die das können, aber die gehören wohl der Fraktion Spieleabend an.
10. Jänner
■ Proben Pornodarsteller eigentlich?
■ Das Schmid Hansl hat endlich wieder geöffnet. Sehe dem Tiroler beim Trinken zu.
Was uns eint, ist unter anderem unsere enorme Verehrung für Dagmar Koller. Diese Erkenntnis und jene, noch keinen Mambo im Programm unserer Kapelle zu haben, werden zusammengeführt und prompt beginnen wir mit der Komposition einer Hommage, des Dagi-Mambos.
Wirt Rasmus scheint das Gefühl zu haben, Ironie würde unseren Federkiel lenken, woraufhin wir ihm leidenschaftlich erörtern müssen, dass und warum wir die Koller tatsächlich lieben.
Dagmar Koller hat Stil vom Scheitel bis zur Sohle. Ihr Auftreten mögen Ignoranten als affektiert abtun, in Wahrheit ist nichts an ihr gekünstelt, die Koller ist einfach wirklich übermütig und keinem noch so großen Fettnapf abgeneigt. Ist es nicht zu späterer Stunde der Wodka, dann spricht „es“ einfach aus ihr heraus, aber ohne beleidigend oder despektierlich zu werden. Sie ist selbstironisch, schlagfertig und originell, dabei aber immer herzlich und liebevoll. Außerdem sieht sie fantastisch aus.
Ich wäre zu erheblichen Opfern bereit, um mit Dagmar Koller Abendessen zu dürfen. Im feinsten Zwirn, dezent parfümiert, sorgsam gekämmt und leicht nervös würde ich sie begrüßen: „Hallo, wie geht’s?“
■ Zitronen-Limetten-Saft: Schmeckt synthetisch. Trotzdem köstlich.
■ Projektidee: Ein Gedichtband, der berühmte literarische Werke in Vierzeilern zusammenfasst. Erste Versuche:
Henrik Ibsen - Nora, ein Puppenheim
Sein Heil verdankte Noras Gatte
dem Geld, das sie ergaunert hatte.
Der Coup fliegt schließlich auf, ihr Mann
ist not amused, sie flüchtet dann.
Franz Kafka - Die Verwandlung
Herr Samsa staunt, als er entdeckt:
Sohn Gregor ist jetzt ein Insekt!
Die Samsas quälen ihn, das führt
dazu, dass Gregor rasch krepiert.
Goethe - Die Leiden des jungen Werthers
Werther liebt Lotte, doch die ist vergeben,
er gibt sie kurz auf und wird dadurch verdrießlich,
versucht es dann später erneut und muss eben
doch einsehen, dass es nichts wird (und erschießt sich).
11. Jänner
■ Besuch in der Morning Show. Der überaus freundliche Herr Freeman und die überaus bezaubernde Frau Augustin befragen mich zum Jahr des Verzichts. Sie haben sich einen sehr passenden Monat dafür ausgesucht, denn nur meine neu gewonnene Vitalität erlaubt derart frühes Aufstehen.
Frei nach dem alten Peter-Rapp-Motto „Vorbereitung ist Schwäche“ habe ich nicht einmal die zwölf Entsagungen auswendig gelernt oder notiert und vergesse zum Beispiel den Verzicht auf Warmwasser oder Kaffee.
Bemerkenswert finde ich, dass im Entspannungszimmer von FM4, eines Radiosenders wohlgemerkt, das älteste, marodeste und funktionsuntüchtigste Radio der westlichen Welt installiert ist.
■ Ob viele Prominente wohl jedes Jahr in der Zeit zwischen Silvester und Neujahr panische Angst vor dem Tod haben, weil sie dann in keinem der vielen Jahresrückblicke Erwähnung fänden, die ja zumeist schon Mitte Dezember publiziert werden?
■ Klicke mich uninspiriert durch Facebook-Profile und -Gallerien von Freundesfreuden und Fremden. Bei einem Foto-Thumbnail stutze ich, ohne im ersten Moment den Grund zu realisieren, und öffne das Bild. Es zeigt auch nach näherer Analyse ganz eindeutig meine Wohnung, bloß kenne ich mit Sicherheit keines der drei Mädchen, die in meiner Küche und auf meinem Sofa posieren. Ich bin für Minuten völlig konsterniert, bis ich vor dem Einsetzen echter Paranoia gerade noch rekonstruieren kann, über welche Stationen vor Jahren mein Schlüssel in meiner Absenz zu diesen Fremden gewandert sein muss. Puh.
■ Spannenlanger Hansl, nudeldicke Dirn
(Floridsdorf)
12. Jänner 2011
■ In letzter Zeit wollen sich auffallend viele Bekannte, die ich unregelmäßig sehe, mit mir Termine in einigen Wochen ausmachen. Ich befürchtete zuerst, dass sich teilweise schon in recht jungen Jahren fehlende Bereitschaft zu Spontaneität einstellt. Dann wurde mir klar, dass man einfach meine einmonatige Abstinenz mit dem Vorwand umgehen will, bis Anfang Februar sehr beschäftigt zu sein.
■ Gestern Abend mein erstes alkoholfreies Bier getrunken. Mein zweites gleich darauf. Es war vor allem deshalb eine Wohltat, weil mein durstiger Rachen nach knapp zwei Wochen fast ausschließlich süßer oder geschmacksarmer Säfte und Brausen nach Herbem gierte. Nach einem Liter des schalen Drinks scheinen Magen und Hirn in Zwietracht zu geraten. Der Magen schaltet in den Partymodus, der Kopf kontert mit kühler Vernunft. Das führt dazu, dass man am Heimweg etwas verwirrt über die grundsolide eigene Performance ist.
■ Thalia - Der McDonalds der Literatur. Das Ambiente betreffend zumindest, das Sortiment gibt selten Anlass zum Tadel. Also zur Abwechslung mal Spontanbesuch in einer gar nicht unpopulären Buchhandlung im ersten Bezirk. Entsetzen darüber, wie man so zahlreiche Quadratmeter für ein derart armseliges Sortiment verschwenden kann. Genau gar nichts gefunden, und dabei wirklich nichts Exotisches gesucht. Céline - Kein einziges Buch. Hamsun - Fehlanzeige. Maupassant - niente. Jünger - Leider. Flaubert - Vergiss es. Ein eigenes „Lesen Sie jetzt alle Bücher des Nobelpreisträgers, damit sie im Lesezirkel aufschneiden können“-Vargas-Llosa-Regal, in dem aber ausgerechnet das wunderbarste Buch des Autors fehlt, „Tante Julia und der Kunstschreiber“. Dafür, wie als trotziger Widerspruch, von Göttern wie Sándor Márai gleich das Gesamtwerk samt Raritäten und Sekundärliteratur.
Welcher Irre ist für hier für den Einkauf zuständig? Und welcher Irre ist für Minuten ernsthaft verstimmt, weil ihm das Angebot einer Buchhandlung nicht zusagt? Belustigt ob meiner völlig überzogenen inneren Reaktion kaufte ich, wie zur Entschuldigung, dann ganz viel ein.
■ Ein Nachtrag von Weihnachten, der die Seltsamkeit von Müttern an sich ganz gut auf den Punkt bringt: Nach einer dreistündigen Zugfahrt berichtete ich der meinigen, dass ich neben einer Cellistin gesessen sei, die unentwegt einige Haare in die Hand genommen, sich diese dann ruckartig ausgerissen und so jedes Mal einen nagelzwickerähnliches Sound erzeugt hätte, um die frisch gerupften Haare dann vor ihre und meine Füße auf den Boden zu streuen, mit einer Bewegung, als würde sie überaus wertvolle Samen säen, was mich zuerst irritiert und dann auch gestört hätte.
Darauf die Mutter. „Ach so, und woher willst du schon wieder wissen, dass sie Cellistin war?!“
Exkurs: Die Sammlung Senft

marc carnal

deli store
Wer an einem Würstelstand in Wien bei der Frage nach den ersehnten Attributen der Bestellung aufmerksam zuhört, wird mitunter feststellen, dass zwischen scharfem und süßem SenfT gewählt werden kann. Die sehr geschätzten Gentlemen vom Projekt X haben dieser ansonsten wohl selten thematisierten sprachlichen Marotte, dem Wiener Senf-Bonus-T, schon in einigen Folgen Tribut gezollt.
In Dialekt-Fachliteratur schlage ich bei Gelegenheit stets zuerst nach, ob diese extended version von Senf verzeichnet ist - nie wurde ich fündig.
Dass man aus dieser kleinen Beobachtung gleich eine Fotosammlung machen muss, ist freilich etwas übertrieben.
Übertrieben ist allerdings auch, drei Fotos als Sammlung zu bezeichnen.

marc carnal
14. Jänner
■ Leichen sind wie Erotikartikel - Sie werden in „diskreter Verpackung“ verschickt. Um Passagiere nicht zu beunruhigen, transportiert man Tote im Flugverkehr luftdicht verschweißt in schnörkellosen Kisten, die nicht an Särge erinnern. Um diese Diskretion allgemein zu wahren, spricht man wohl bei Flugzeugkatastrophen nicht von „156 Toten, davon 152 durch den Absturz.“
martin haas
■ Muss eingestehen, meine 10-Cent-Mission nicht zufriedenstellend erfüllt zu haben. Kollege Berger wird morgen zwei Stück Salami und zwei Litschis in einem Plastiksack aus der Trafik bekommen, alle drei Produkte für zehn Cent. Ich habe einiges probiert und bin gefühlsmäßig gescheitert.
■ Spiele zum ersten Mal in meinem Leben Lotto und freue mich jetzt schon auf die Ziehung am Sonntag. Mein Enthusiasmus treibt mich ins Schmid Hansl, um dort gleich eine Lottogemeinschaft ins Leben zu rufen. Man ist abgeneigt. Dafür wird ein Sparverein ins Leben gerufen, dessen Ziel eine gemeinsame Busreise der Stammgäste am Jahresende ist.
Meinem heute akuten Bedürfnis, etwas Verschrobenes zu tun, konnte ich also auch ohne Lottogemeinschaft noch nachkommen.
■ Soap-Opera-Abend: Wie als Resultat eines besonders unkreativen Abends des Drehbuchautors kommen am Ende alle Protagonisten schier zufällig im gleichen Café zusammen und munkeln. Geht also auch in Wirklichkeit.
■ Die Enkel von Thomas Mann,
nannten ihn schlicht „Omas Mann“.
15. Jänner
■ Halbzeit.
■ Erkenntnis: Man kann auch von zwei Litern Clausthaler und sieben Kaffee verkatert sein.
■ Mario Vargas Llosa über Céline:
”Der Stil kann unschön und dennoch, dank seiner Kohärenz, wirkungsvoll sein. […] mich bringen seine kurzen, gestotterten, mit Auslassungspunkten übersäten und von Ausrufen und Argot aufgepeitschten Sätze auf die Palme. Trotzdem gibt es keinen Zweifel daran, dass seine Romane […] eine überwältigende Überzeugungskraft besitzen. Dieser Schwall von Unflat und Extravaganz hypnotisiert uns geradezu und entkräftet unsere ästhetischen oder ethischen Vorbehalte.“
Passt wunderbar zur aktuellen Lektüre, „Jeder stirbt für sich allein“ von Hans Fallada. Dreißig Seiten stören das Unrhythmische und die Alltagssprache, um schnell zum Trumpf eines Romans zu werden, der das aus heutiger Sicht so Unfassbare des zweiten Weltkriegs eindrücklich schildert, wobei eindrücklich (kursiv) hier nicht unbedacht verwendet wird, denn die ausufernde und -fransende Geschichte lehrt das innere Wesen dieses zeitgeschichtlichen Kapitels tausendmal besser als der enthusiastischste Historiker.
Hans Fallada mag auf Ewigkeit vom Kanon weitgehend ignoriert werden. Egal. Er wird überleben.
■ Herbstgedicht-Bausatz:
……….…….…………..Herbst
……….…….……………Wind
……….…….……Blätter färbst
……….…….………jedes Kind
………..………..Äpfel pflücken
………….………….Farbenfülle
……....Landschaft schmücken
…………………….……...Stille
……………..………….verblühn
……...die Bäume weit und breit
……………...noch gestern grün
………………..ein gelbes Kleid