Erstellt am: 23. 11. 2010 - 19:07 Uhr
Happy Birthday, City Slang
Seit Tagen beginne ich diesen Text mit den Worten "Während ich das hier tippe, sitze ich..." abwechselnd am Sprung nach Berlin, am Sprung in den Admiralspalast, am Sprung ins Bett, am Sprung in den C-Club, am Sprung zum Frühstück für Slacker und jetzt aber also am langen Sprung nach Wien.

ondrusova
Denn während ich das hier tippe, spulen sich die Bilder der letzten Tage wie eine Diashow vor meinem lachenden und weinenden Auge ab. In chronologischer Reihenfolge passierte nämlich folgendes: Pajo, Tu Fawning, Menomena, Tortoise, Broken Social Scene, Alexi Murdoch, Yo La Tengo, Lambchop, Mogwai, Isobel Campbell und Mark Lanegan. Das ist so ungefähr auch die Playlist für einen guten Start in den Tag, an dem ich das hier tippe und sitze.
Die Chronologie der Zustände für KurzzeitleserInnen als Fussnote zusammengefasst:
1 David Pajo ist u.a. eine musikalische Allzweckwaffe. Mit Slint und Spiderland war er an der Postrock Blaupause beteiligt, sein neues Projekt Evila ist Instrumentalheavynoise. Seine aktuelle Tätigkeit als Interpol-Bassist mal aussen vor gelassen, hat sich Pajo in Berlin u.a. Zeit genommen, um ein paar Fragen zu seiner ersten musikalischen Hörerfahrung, der Louisville Szene in den 80ern, dem Spiderland Meilenstein und der Zukunft zu beantworten. Gibt es bald in ausführlicher Form zum Nachhören und Nachlesen.
2 Tu Fawning aus Portland ist das neue Bandprojekt von Corinna Repp und Joe Haege, der u.a. bei 31 Knots oder auch bei Menomena werkelt. "Hearts On Hold" das neue bald erscheinende Album ist komisch. Es bewegt sich quer durch die Musikgeschichte, ohne stillhalten zu wollen. Und dieses Schlagwerk dann auch noch! Genauso hab ich das Joe Haege im Interview auch gesagt und dann haben wir uns über Boardwalk Empire unterhalten.
3 Menomena spielen heute am 23.11. im Vorprogramm von Get Well Soon in der Wiener Arena.
4 Tortoise haben schon gespielt.
5 Broken Social Scene haben einen kitschigen Film ermöglicht, den ich mich nicht traue anzusehen. Aber ich mag sie sonst alle sehr und höre mir das Charles Spearin Happiness Project u.a. am Weltfriedenstag immer an. Also jeden Sonntag.
6 Alexi Murdoch findet es schön, dort in der Nähe zu wohnen, wo "1984" geschrieben wurde.
7 Das Seitenprojekt von Yo La Tengo Bassisten James McNew heisst Dump.
8 Lambchop´s Sänger Kurt Wagner hat u.a. ein neues Projekt mit Courtney Tidwell am Start. Höre: Kort.
9 Mogwai Keyboarder und Vocoderstimme Barry Burns ist mit seiner Frau nach Berlin gezogen und hat letzte Woche sein altes Sub Pop T Shirt zum Ausmalen verwendet. Im Dezember eröffnen die beiden eine Bar in Neukölln, die aber nicht Mr. Beast heissen wird. Das mit dem Sub Pop T Shirt macht auch nichts, denn das neue Mogwai Album (Vorsicht: spoiler!) "Hardcore Will Never Die But You Will" wird im Februar 2011 u.a. auf Rock Action Records& eben Sub Pop in Amerika erscheinen. Und noch ein Spoiler: Es sind ziemliche Killerhits drauf. Was Weiterentwicklung für eine Band wie Mogwai bedeutet, gibt es am 30.11. in der FM4 Homebase zu hören. Karten für die Welteroberungstour sollte man sich auch sichern: 8.März @ WUK.
10 Isobel Campbell und Mark Lanegan haben im Berliner C Club ihr nun schon drittes gemeinsames Album "Hawk" vorgestellt. Im Interview mit der ehemaligen Belle&Sebastian Cellistin ging es u.a. um moderne Musik und das stinkige Leben on the road. Zu hören am 29.11. in der FM4 Homebase.
Was bisher geschah: Das deutsche Indie-Label "City Slang" beweist seit 1990 guten Geschmack und dazugehörige Nerven. Aus diesem runden Anlass fand vergangenes Wochenende im Berliner Admiralspalast eine Rück- und Vorschau auf 20 Jahre Labelgeschichte statt. The Notwist haben ihren "Neon Golden" Auftritt zwar absagen müssen, dafür sorgten die Gigs mit Calexico und Get Well Soon nicht zuletzt mit einer gemeinsamen Coverversion von Arcade Fires "Ready To Start" für einen sicherlich gebührenden ersten Festivaltag. Ich sitze an diesem Abend allerdings noch im Zug Richtung Berlin und höre mich durch mein im September aufgenommenes Interview mit Christof Ellinghaus durch.

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Ellinghaus zieht Ende der 80er Jahre vom malerischen Dörfchen Beverungen an der Weser nach Berlin um unter anderem bei einer Konzertagentur tätig zu sein. Inspiriert von den umtriebigen Nachbarn aus seinem Heimatstädtchen, die Ende der 90er Jahre mit Glitterhouse die europäische Labelzentrale für das Grunge Revolutions Labelwerk Sub Pop wurden, macht Ellinghaus aus der Not einiger seiner tourenden Acts eine Tugend und gründet das Label City Slang um zum Beispiel Flaming Lips oder Hole eine Labelheimat in Europa zu geben.
Mit dem Verkaufserfolg vom zweiten Hole Album "Live Through This", das eine Wochen nach Kurt Cobains Tod veröffentlicht wird, entsteht für City Slang ein Standbein, mit dem sich Ellinghaus dann auf das konzentrieren kann, was alle Indie-Labels leisten sollten: langfristige Aufbauarbeit, die eine gesunde Balance schaffen kann zwischen erfolgreiche Bands an Bord halten und gleichzeitig in neue Bands investieren, so dass diese "erfolgreich" werden und sich so ein Indie-Traumzirkel selbst erhalten kann. Das ist City Slangs Geheimnis in a nutshell.

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"Hole verkaufen kann sogar meine Oma. Schöner und interessanter war es tatsächlich, als wir das erste Mal so eine Band wie Calexico in die Charts gebracht haben. Das war so 'wow!' - wir schaffen es, dass eine unserer Bands so eine Connection mit dem hörenden Publikum macht, dass es tatsächlich in die Charts geht! Wenn du so eine Indie Klitsche betreibst, kommt das nicht so oft vor!",
meint Ellinghaus und wirft ironisch nach: "Jetzt wo sich kaum noch Platten verkaufen ist man ja ständig in den Charts!"
Christof Ellinghaus ist sich wie viele, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben, über sein Glück bewusst. Die "erhellenden musikalischen Begegnungen", die Freundschaft, die Familie haben ihn zwanzig Jahre lang begleitet. Mit allen Ups and Downs natürlich, denn im zweiten Jahrzehnt des Labels musste sich auch City Slang vermehrt mit der Frage "Wieviel ist unsere Musik den KonsumentInnen wert?" beschäftigen, einige andere Labels sind gescheitert und mussten zusperren.

ondrusova
Seit der digitalen Revolution wird der Tod der Musikindustrie in regelmässigen Abständen und in vielen Formen herbeibeschworen. Anfang der 00er Jahre wusste man auch im City Slang Headquarter noch nicht so recht, welche Auswirkungen Napster&Co auf den Musikmarkt haben werden.
"Jahrzehntelang haben die Majors die gleichen 40 Songs auf zwei CDs gepresst und sie unter verschiedenen Namen den Kunden untergejubelt."
"Das ist eigentlich Kundenveräppelung. Das war das erste was die Leute runtergeladen haben. Und ich hab tatsächlich gedacht, das Ganze geht an uns vorbei - wir hatten ja noch immer die idealistische Vorstellung, dass Leute die unsere Musik hören, den Wert darin sehen: 'der Kunde weiß, dass das Geld kostet!'. Das hat sich dann circa 2005 aber erledigt. Aber ganz ehrlich, die gravierendste Entwicklung in dem zweiten Jahrzehnt meines Labels ist: es gibt mehr Musik und sie reist. Wenn heute einer in Florida irgendein Lied einspielt, was wunderschön ist, dann heißt das noch immer nicht, dass das einer hört, aber wenns wirklich toll ist, dann werden die Leute darüber schreiben und berichten, es vervielfältigen und dann geht das auf eine Reise, die meinetwegen bei Arcade Fire endet."

arcade fire
Als Arcade Fire heuer kurz vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums "Suburbs" stehen, läuteten beim Management alle Alarmglocken, es heißt zu verhindern, dass "eine der agilsten Online-Fangemeinden das Album zerstückelt ins Netz stellt" - in der Praxis so gut wie unmöglich. "Keine Ahnung!", meint Ellinghaus auf die Frage, in welcher Größenordnung sich da die Verlustzahlen bewegen oder bewegt haben.
"Sind das Stückzahlen, die dann nicht mehr verkauft werden, oder sind das Leute, die sagen: Wow, das ist eine tolle Platte, ich kauf sie mir! Ich glaub ja, dass das Internet eher hilfreich ist. Und das ist die Entwicklung, das ist die Demokratisierung - ich entscheide nach Anhören wofür ich Geld ausgebe und nicht vorher. Da kann ich mich nicht darüber beschweren, aber beziffern kann ichs nicht - nein!"

menomena
"Also lassen wir die Zahlenspiele..." tippe ich am Sprung in den Admiralspalast, wo Menomena den zweiten Festivaltag eröffnen. Tortoise liefern zwar ein beeindruckendes aber auch mathematisches Konzert ab. Für das ich mich im Balkonsessel fallen lasse und die Bühne kurz Bühne sein lasse und versuche Tortoise Albumtitel nach Jahreszahl in meinem Kopf zu sortieren. Den Headlinern vom ersten Tag, Broken Social Scene, gelingt es zwar nicht, das gesamte Publikum aufzuwecken (vielleicht am ehesten bei der Schlussnummer Meet Me In The Basement) aber wie ich den Kollegen vor dem Palast verteidigend zuschreie: "Ein nicht perfektes Broken Social Scene Konzert ist noch immer ein gutes Broken Social Scene Konzert" Mit den Worten und einem nachhallendem "Anthem for a 17 Year Old Girl" im Ohr wandere ich Richtung Traumzentrale ab und wundere mich, wo all mein Geld hin ist, bis ich am nächsten Tag eine PJ Harvey-Karte für Februar 2011 in meiner Hosentasche entdecke.

ondrusova
Am nächsten Tag "same place, different lineup" helfe ich mir am Sprung in den Konzertsaal über die Schreibhemmung hinweg. Mit Murdoch präsentiert City Slang ein Signing aus dem kommenden 21. Labeljahr: Die Songs des griechisch-schottischen Singer/Songwriters dürfte man aus Filmen wie American Beauty, Garden State oder Away We Go und zahlreichen anderen TV-Produktionen kennen, mit "Towards The Sun" darf man sich auf ein fragiles neues Album einstellen, das unter anderem in der Einsamkeit der schottischen Westküstenlandschaft entstanden ist. Alexi Murdoch ist der erste in der Reihe der sitzenden Geburtstagsgratulanten des letzten Festivalabends.
Wer wie ich geglaubt, hat Yo La Tengo würden sich einem ähnlichen zerstörenden und aufbauschenden Livespiel hingeben, wie anlässlich ihrer letzten Europa-Tour, hat den Zusatz der "early years" überlesen, denn das Trio aus Hoboken ist mit ihrem ehemaligen "early years" Leadgitarristen Dave Schramm angereist. Ira Kaplan kann sich also an der Akustischen zurücklehnen und wird sie bis zur letzten Zugabe "Emulsified" (!!!) nicht mehr aus der Hand geben. Die Setlist - wenn auch kein eins zu eins "Fakebook" Konzeptkonzert - ziemlich umwerfend und hier zum Nachlesen.

ondrusova
Während Yo La Tengo ihre sanfte Seite (Emulsified Elvis Performance am Lambchop Klavier als einzige Ausnahme) offenbart haben, überraschen Lambchop, denen ich eigentlich am ehesten den Schunkelzauber zugestanden habe, mit einer Lebendigkeit, die sich unter anderem in einem herumtanzenden Kurt Wagner manifestiert. Die Standing Ovations an dem Abend gehören aber nicht nur Lambchops "Is A Woman" sondern allen, die zwanzig Jahre lang dieses Label auf den Beinen gehalten und getragen haben. Tippe ich also. Und muss auch schon wieder aufstehen. Am Sprung in so einen Plattenladen. Da gibt es Musik to go. Go! GO!