Erstellt am: 9. 11. 2010 - 11:47 Uhr
Wer will schon perfekt sein?
Die Zukunft von etablierten Medien wie Tageszeitungen in ihrer heutigen Form ist ungewiss. Überall wird gespart, Zeitungen eingestellt ("Zeitungssterben in den USA"), Redaktionen zusammengelegt in einen allumfassenden Newsroom, der Synergien zwischen den Subredaktionen erstellen und schlussendlich Arbeitsplätze, RedakteurInnen, einsparen soll. So manch einer will da nicht mehr mitspielen und fängt an, die Vergangenheit zu glorifizieren. Autor Tom Rachman stolpert mit seinem Roman "Die Unperfekten" ebenfalls über die Glorifizierung, fällt aber nicht.
Die Unperfekten

DTV-Verlag
Er erzählt in seinem Debütroman den Werdegang einer internationalen Tageszeitung, die in den 1950ern in Rom gegründet wurde.
Damals war der Teppich neu und sauber, es standen schwere Kristallaschenbecher in der Redaktion, jeder war Teil des wuselnden pulsierenden Treibens im Newsroom - hier war man an der Schnittstelle zur Welt, hier wurden Nachrichten gemacht. Im Laufe der Zeit jedoch wechselt der Verleger, das Ott-Imperium aus den Staaten verliert mehr und mehr das Interesse an der Zeitung, setzt den unfähigen und uninteressierten Oliver Ott als Verlegerattrappe ein. Die Auslandskorrespondenten werden immer weniger, die Zeitung ignoriert das Internet komplett und weigert sich, eine eigene Website anzubieten und Mitarbeiter werden entlassen. Die verbliebenen Mitarbeiter müssen die Arbeit der Entlassenen übernehmen, immer weniger eigenrecherchierte Themen werden abgedruckt, Agenturmeldungen überwiegen.
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"Die Unperfekten" handelt aber weniger von der Zeitung an sich, sondern vielmehr von den Persönlichkeiten, die die Zeitung machen. Sie alle treffen sich im Biotop Newsroom, arbeiten an der Zeitung, führen Grabenkämpfe und wissen privat oftmals gar nichts voneinander. Sie agieren alle im Kontext zwischen Karrieresucht, journalistischer Neugier, Phlegmatismus und persönlichen Problemen. Nur eines haben sie alle gemeinsam: ihre Marotten, verkorkstes Privatleben, Unperfektion. Es sind eben Menschen. Feinfühlig skizziert Rachman in jedem Kapitel die Geschichte eines Zeitungsmitarbeiters aus subjektiver Sicht. Die dabei entstandenen Kurzgeschichten könnten problemlos für sich allein stehen, werden aber untereinander verknüpft. In jedem weiteren Kapitel erfährt man mehr über die Beweggründe der ZeitungsmacherInnen, versteht, warum sich die Wirtschaftsjournalistin Hardy Benjamin zum Beispiel nicht mehr mit ihrer ehemaligen Freundin Annika, die mit dem Nachrichtenchef Craig Menzies zusammen ist, zum Kaffeetrinken trifft. Rachman schafft es, ein psychologisches Geflecht aus subjektiven Wahrnehmungen zu schaffen. Erscheint einem Ruby Zaga zunächst als unfähige Textredakteurin, erkennt man in ihrem Kapitel, dass sie psychische Probleme hat, sich einfach nach Liebe sehnt und bekommt Mitleid mit ihr. Der Spannungsbogen wird in jedem Kapitel neu gespannt, immer wieder wird man in die detaillierten Beschreibungen der Charaktere hineingerissen, erfährt neue Schattierungen der Figuren, fühlt und leidet mit ihnen.

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Jedes Kapitel endet mit einem Überblick über die einschneidenden Entwicklungen der Zeitung zu einer bestimmten Zeitperiode. In diesen Abschnitten wird die subjektive Ebene verlassen und chronologisch von Beginn der 50er Jahre bis 2008 beschrieben.
Gelesen wird immer

Alessandra Rizzo
Der Roman fesselt, weil er es schafft, die Charaktere facettenreich zu beschreiben. Rachman meidet weitgehend Klischees über Journalisten: den Superredakteur mit der Geschichte seines Lebens, investigativ und weltverändernd sucht man in seinem Buch vergeblich, genauso wie den immer alkoholisierten Schmierblattschreiber. Er widmet sich lieber dem Alltag "echter" ZeitungsmitarbeiterInnen, manchmal tragisch, manchmal komisch, aber immer realitätsnah. Rachman hat selbst jahrelang als Auslandskorrespondent für die Associated Press in Rom gearbeitet, seit 2006 ist er Redakteur der International Herald Tribune in Paris. Man kann ihm also die Glaubwürdigkeit seiner Romancharaktere durchaus abnehmen.

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An manchen Stellen wirkt der Roman etwas zu berechenbar. Wenn zum Beispiel in einem Kapitel die Frage gestellt wird, warum sich der ursprüngliche Verleger und Gründer der Zeitung Cyrus Ott so für die Zeitung einsetzt, kann man sicher sein, dass spätestens im nächsten Kapitel diese Frage beantwortet wird.
Manchmal erinnert "Die Unperfekten" an Six Feet Under: ein dutzend deprimierter unglücklicher Figuren, die erst aufleben, als das Bestattungsinstitut verkauft wird - oder in diesem Falle die Zeitung geschlossen wird. Eine Leseempfehlung nicht nur für PublizistikstudentInnen.