Erstellt am: 8. 11. 2010 - 11:01 Uhr
EU: Internetsperren lähmen E-Commerce
Am Wochenende ist die Frist für Einreichungen beim "Online-Questionnaire" der EU-Kommission zum Thema E-Commerce abgelaufen. Angesichts der nicht berauschenden Zahlen im Online-Verkauf - gerade einmal zwei Prozent des EU-weiten Einzelhandels - hat sich die Kommission entschlossen, die betreffende Richtlinie aus dem Jahr 1999 zu novellieren.
Denn einheitlich geht es im digitalen Geschäft quer durch Europa ganz und gar nicht zu. Die nationalen Regeln für Telekoms und Internet Service Provider (ISPs) differieren enorm, weil die jeweilige nationale Justiz die Richtlinie in verschiedenen Punkten so interpretiert, wie der politische Wind gerade weht. Neben einer ganzen Reihe von Fragen zu Zahlungsmodalitäten und Konsumentenrechten geht es vor allem um die europaweit äußerst unterschiedlichen Haftungsbedingungen für ISPs, sowie die daraus resultierenden nationalen Auflagen.
Im "Questionnaire" der Kommission findet sich eine ganze Reihe von zu den Themen "Internet-Filtern" (= Sperren), oder "Monitoring des Verkehrs", Haftungspflichten für Betreiber von sozialen Netzwerken oder die Haftungsfrage bei Cloud-Computing.
Haftung als Fleckerlteppich
In Frankreich sind die ISPs dazu verpflichtet, ein Jahr lang den gesamten Internetverkehr ihrer Kunden in Datenbanken "auf Vorrat" zu speichern. Aktuell müssen die ISPs dort gerade auf eigene Kosten ein dreistufiges Abmahnwesen einführen. Die so genannte "Three Strikes Out"-Regelung dient nicht dem eigenen Geschäft, sondern den Interessen der Unterhaltungsindustrie.
Über der Grenze, in Deutschland, gibt es momentan nichts dergleichen, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung verworfen hatte und die technisch wohl sinnloseste Maßnahme, eine Pseudosperre von Websites mit Darstellungen von Kindesmissbrauch, ausgesetzt wurde. Beim Nachbarn Dänemark und anderen Staaten sind die ISPs andererseits verpflichtet, laufend neue Adressen in ihren Netzen zu "sperren".

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Frankreich, Irland
In Frankreich muss jeder ISP nach der dritten Mahnung der Unterhaltungsindustrie über die Behörde HADOPI das Geschäftsverhältnis mit seinem Kunden überhaupt suspendieren. In Irland wiederum hat der Oberste Gerichtshof am 20. Oktober eine einstweilige Verfügung der Unterhaltungskonzerne EMI, Sony, Universal und Warner gegen den Netzbetreiber UPC abgelehnt.
Die Kernaussage: Nach irischem Recht sei es nicht zulässig, einen Provider zur Vorabfilterung des Internetverkehrs aller seiner Kunden zu verpflichten, entschied das Höchstgericht.
Nicolas Sarkozy wiederum hatte die erste Version seines "Loi HADOPI" ebenfalls vom Verfassungsgerichtshof zurückerhalten. Die rumänischen Verfassungsrichter hatten die Vorratsdatenspeicherung bereits vor den deutschen gekippt.
Löschen statt sperren
Gegen Österreich und mehrere andere Staaten wurden von der EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet - wegen noch nicht erfolgter Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Auch Internetsperren gegen "Kinderpornographie" gibt es hierzulande wenigstens vorerst einmal nicht, in Deutschland ist man zur Devise "Löschen statt Sperren" übergegangen.
Mehrere Bürgerrechtsorganisationen, darunter die umtriebige "Quadrature du Net" haben ihre Antworten auf das "Questionnaire" bereits ins Netz gesetzt.
Zwar ist die Unterhaltungsindustrie vom Umsatz her weitaus kleiner ist als etwa die Telekomindustrie, im Unterschied zu dieser aber verfügt man über Medien. Und die werden im eigenen Interesse eingesetzt. Da wird - wie jetzt gerade wieder in deutschen Printmedien - angeführt von Medientycoon Rupert Murdoch (Sky) zum x-ten Mal "Das Ende der Gratiskultur im Internet" angestimmt. Schon bald würden neue, strengere Regeln gelten, heißt es periodisch, wenn nicht gerade der kulturelle Verfall in Leitartikeln beklagt wird.
Vertrauen, Investitionen
All das ist Gift für das Gedeihen von Online-Handel und neuen Webservices, weil es in Europa ganz offensichtlich an Vertrauen auf der Kundenseite fehlt. Genau das aber braucht der Markt, da die Investitionen ansonsten nur zögernd fließen. Das ist die aktuelle Situation in Europa, wo ein zersplitterter Markt auch nach zehn Jahren E-Commerce noch nicht zusammenwachsen konnte.
Mitten in das nach der Dotcom-Blase gerade wieder beginnende Geschäft sorgten die Passwort-Phishing-Wellen für Verunsicherung in Europa. Die hatte man zwar relativ schnell wieder im Griff und Phishing spielt als kriminelles Massenphänomen inzwischen eine eher untergeordnete Rolle in Europa.
Das momentane Klima von Filtern, Netzsperren und laufenden Entscheidungen der Höchstgerichte, die eine gerade erst beschlossene neue Rechtslage wieder umwerfen (müssen), ist also der Entstehung eines gesamteuropäischen Online-Markts nicht eben förderlich.
Europa hinterher
Seitdem die illegalen Websites, auf denen man Benutzernamen und Passwort eingeben soll, nach ihrer Entdeckung systematisch und sofort gelöscht werden, kommen jene Ahnungslosen, die ihre Daten tatsächlich eingeben würden, gar nicht mehr an die betreffenden Eingabeformulare heran. Bevor sie noch auf die dazu gehörige Spammail hineinfallen können, weist der dort enthaltene Link bereits ins Nichts.
In den USA ist das "gemeine Phishing" noch immer ein erhebliches Problem, wenn sich die Methoden auch etwas verändert haben. Trotzdem lag der Online-Handel bereits 2009 bei sechs Prozent des gesamten Einzelhandels der USA, Tendenz stark steigend. Die Analysten von Forrester sagen für die USA ein Wachstum von 11 Prozentpunkten pro Jahr auf insgesamt acht Prozent 2014 voraus.
Europa muss befürchten, hier den Anschluss zu verlieren, noch dazu, weil die US-Angebote vom niedrigen Dollar profitieren. Aber bei laufend neuen Populismen von Politikern zu Internetsperren da und Monitoring dort und einer medialen Darstellung des Internets als Hort des Verbrechens wird das in Europa schwer. Der Kommission ist das durchaus bewusst, die zuständige Kommissarin Neelie Kroes hat sich schon mehrfach sehr ungnädig über nationale Alleingänge in Sachen Internet geäußert. Kroes will natürlich ihre im Mai vorgestellte digitale Agenda EU-weit umsetzen.