Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Dorf und Feld an der South Bank"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

16. 6. 2010 - 17:09

Dorf und Feld an der South Bank

Villagers und Field Music gestern bei Richard Thompsons Meltdown in der Queen Elizabeth Hall.

Selbst ich als notorischer Singersongwritermöger hab immer wieder mit diesem Gedanken zu kämpfen: Dass wir ihn einfach schon zu oft gesehen haben, den niedlichen Typen mit der akustischen Gitarre. Schon wenn er auf die Bühne schleicht, mit seinem farblosen Kapuzensweater, seiner Salatschüsselfrisur und dem mit schwarzem Gaffa-Band abgeklebten Schallloch - authentisch nachlässig, wie es sich gehört - meinen wir zu wissen, was kommt.

Und dann fängt er an zu zupfen, und ich höre ein Klavier. Dort, direkt hinter ihm, steht es ja auch, aber nein, es sitzt keiner davor. Und nach dem bundlosen Bass, den mein Ohr mir vorgaukelt, such ich jetzt erst gar nicht mehr, sondern gewöhne mich an die Einsicht, dass hier einer so dynamisch und gefühlvoll zupft, dass er mit ein paar Fingerbewegungen ein ganzes Malbuch voller Klangfarben in die Queen Elizabeth Hall pinseln kann.

Villagers in der Queen Elizabeth Hall

Robert Rotifer

Das Meltdown Festival ist eine mehrtägige Konzertreihe an der Londoner South Bank (Royal Festival Hall, Queen Elizabeth Hall), die jedes Jahr von einer anderen Persönlichkeit kuratiert wird. Heuer ist Richard Thompson, Gallionsfigur des britischen Folk-Rock der letzten knapp 45 Jahre, dran. Vormalige Kuratoren waren Patti Smith, Scott Walker, Nick Cave, David Bowie, Jarvis Cocker, Laurie Anderson, John Peel, Robert Wyatt oder Massive Attack.

Poster vor der Queen Elizabeth Hall

Robert Rotifer

Das hat gerade an diesem Abend was Passendes, ist dieser Auftritt doch Teil des Meltdown-Festivals, kuratiert von niemand geringerem als Richard Thompson, seines Zeichens einem der besten Zupfer dieser Erde, allerdings mit einem nadelklaren Sound. Die Einmannband, die hier auf der Bühne steht - „Hallo“, sagt er, „ich bin Conor von der Band Villagers“, so als wüssten wir nicht, dass er grundsätzlich in fiktivem Plural durch sein musikalisches Leben geht – diese Einmannband also klingt vom Fingerschlag her wesentlich weicher und wärmer, wenn überhaupt dann eher nach Thompsons seligem Kumpanen Nick Drake, allerdings zuzüglich eines hin und wieder in spröde terzlosen oder dröhnend dissonanten Akkorden durchklingenden Wissens um die Welten von Sonic Youth oder Velvet Underground.

Villagers in der Queen Elizabeth Hall

Robert Rotifer

Allerdings, das hätte man auch von Elliott Smith behaupten können, oder von Conor O'Briens Namensvetter Oberst, deren beider Einfluss vor allem im Gesang des jungen Iren unbestreitbar zu hören ist. Aber aus der spielerischen Verbindung von Smithschem, flachem Falsett und Oberstschem Melodrama entsteht dann erst recht was Unerwartetes, Verblüffendes.

In jedem Fall reichen diese Bezüge noch lange nicht, um zu begreifen, was O'Brien da aus seinem begrenzten Instrumentarium herausholt. "The Meaning of the Ritual", "Ship of Promises", "Becoming a Jackal", "Pieces" (ohne Wolfsgeheul!), "To Be Counted Among Men", ein Song nach dem anderen erblüht in immer wieder ungeahnter Üppigkeit, schweift lyrisch ab und findet wieder zurück zum Punkt.

Und dann zieht er für "27 Strangers" auch noch das Kabel aus der Gitarre, stellt sich drei, vier Mieter entfernt vom Mikro hin und singt den gesamten Song einfach so, ohne auch nur im Ansatz mit Lautstärke zu kompensieren. Das macht indessen der Mischer am Pult, zieht ganz gelassen den Regler hoch, und was dabei herauskommt, ist ein perfekt zu O'Briens Geschichte über eine nächtliche Busfahrt passender, einsam melancholischer Hall mit einem weichen weißen Rauschen dazu.

Villagers in der Queen Elizabeth Hall

Robert Rotifer

Überhaupt hab ich (vielleicht abgesehen von Toots Hibbert, Jonathan Richman oder Van Morrison) kaum je einen Performer, schon gar nicht einen von O'Briens jungen Jahren, so effektiv mit der Entfernung vom Mikro als Stilmittel spielen sehen.

Als er nach seiner Unplugged-Einlage für das sambaeske "Set the Tigers Free" die Gitarre wieder ansteckt, steht er plötzlich direkt an meinem Ohr (nein, ich hab nichts geraucht). Der auf Platte mittels Filter auf den Backing Vocals dramatisierte Call-and-Response-Refrain von "Home" ("Can you call me when we're almost halfway / Home / Wake me when we're almost halfway / Home") gerät wiederum zu einem regelrechten Hörspiel.

Die Leute von Domino werden das vielleicht nicht gern hören, aber nach diesem Gig will ich sein wunderschön opulent arrangiertes Debüt "Becoming A Jackal" am liebsten gegen eine nüchterne Soloversion tauschen.

Sollte es Villagers irgendwann in eure Nähe verschlagen, wäre es sinnlose Selbstbestrafung, das zu versäumen. Bis dahin gibt es wenigstens das große Album (der Zu-Zwei-Dritteln-Solo-Song "To Be Counted Among Men" vermittelt immerhin einen ungefähren Eindruck davon, wie sich das live übersetzt).

Blick von der Queen Elizabeth Hall auf London Eye und Houses of Parliament

Robert Rotifer

Was ein Blick. Stimmt schon, die South Bank ist ein leuchtendes Beispiel für gelungenen Modernismus im öffentlichen Raum, vor allem in der Abendsonne.

Im Kontext dieses Abends war Villagers dekadenterweise jedenfalls nur das Vorprogramm von Field Music, die ich – so innig ich ihre drei Alben und die Seitenprojekte School of Language und The Week That Was verehre – noch nie live erlebt hatte.

Umso schöner, vor dem Konzert zufällig mitzuerleben, wie die Gebrüder Peter und David Brewis ihre aus Sunderland eigens nach London gereiste Mama dem Mann von der PR-Agentur vorstellen: "May we introduce? This is Mrs Brewis."

Ich würde jedenfalls gern mehr über diese Familie erfahren, denn was die beiden Söhne dieser gemütlich aussehenden Nordengländerin mit der großen Handtasche auf der Bühne anstellen, lässt auf lebhafte Hausmusik schließen.

Field Music in der Queen Elizabeth Hall

Robert Rotifer

Beide spielen gleichermaßen hervorragend und mühelos Schlagzeug und Gitarre, singen in perfekter Harmonie, und Peter, der kleinere, ist auch noch am Klavier eine Kanone. Seit Punk ist es in der Pop-Kritik zwar nicht mehr erlaubt, instrumentale Fähigkeiten als Qualitätskriterium anzuwenden, aber wenn alle Konservatoriumsabschlussprüfungen so klängen wie ein Field Music-Konzert, dann stünde summa cum laude für eine Maximaldosis Laudanum.

Anders herum gesagt: Wenn die besten Prog-Rock-Bands der Spätsechziger bis Mittsiebziger so ein verlässliches Ohr für Pop-Melodien gehabt hätten wie dieses virtuose Gespann, dann hätte es vielleicht keinen Punk gebraucht, und wir würden heute (die geneigte Kooperation der Disco-Fraktion vorausgesetzt) alle zu exzentrischer Metrik tanzen und zu vertrackten Unisono-Breaks Luftinstrumente spielen.

Bei Field Music sind jedenfalls mehr als zwei Viervierteltakte hintereinander schon ein seltenes Ereignis - eine Ironie, wo die minimalen Abstände in den atemberaubend präzisen Songabfolgen doch stets von nichts als einem lapidaren "one-two-three-four" markiert werden, ehe die Brewis-Brüder, assistiert von den konzentriert konzertierenden Beiden Anderen (Ian Black am Bass und Kev Dosdale an Gitarre und sporadischem Keyboard), einen Song wie das unglaublich ansteckende "Them That Do Nothing", "Clear Water", "Something Familiar", "If Only The Moon Were Up" oder "A House Is Not A Home" vom Stapel lassen. Der Sound, den die vier so erzeugen, ist zu gleichen Teilen Steely Dan und Soft Machine, Prefab Sprout und Pink Floyd, XTC und ELP, letzteres allerdings nur im bombastischen Finale.

Field Music in der Queen Elizabeth Hall

Robert Rotifer

Von Richard Thompson eingeladen zu werden, sagte David Brewis, sei "a dream come true". Ich hab den Kurator in der ziemlich skandalös spärlich besetzten Halle (nebenan in der Royal Festival Hall spielten gleichzeitig Paolo Nutini und die Smoke Fairies) jedenfalls nicht gesehen. Da hat er ordentlich was versäumt.