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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

3. 5. 2010 - 13:59

Pop am Märchenrave

Das Geschwisterpaar CocoRosie bezaubern mit ihrem vierten Werk "Grey Oceans", auf dem mit den Kreaturen der Nacht am Märchenrave getanzt wird.

Wie eine kaputte, billige Plastik-Kuckucksuhr, wie man sie in einem schmuddeligen Souvenirladen in der verstaubten Ecke findet, klingt das erste Sample von "Grey Oceans", begleitet von einem verhallten Saiteninstrument, das nicht so richtig zugeordnet werden kann. Ein Art Of Noise ähnlicher Synthie-Klang, mit dem in den Achtzigern Chorgesang imitiert wurde, legt sich wie ein unheimlicher Nebel über die Nummer "Trinity's Crying". Die engelhafte Stimme von Sierra und der eindringliche Sprechgesang von Bianca klingen wie aus einem anderen Universum. Schon im einminütigen Trailer zu diesem Eröffnungsstück wird klar, dass die Casady Geschwister alias CocoRosie einmal mehr in ihrer eigenen Welt leben, wenn sie Musik machen. In einer Welt, in der Einhörner und Werwölfe sich gute Nacht sagen, nachdem sie gemeinsam auf dem Märchenrave im Zauberwald getanzt haben.

Fairy Paradise

Die Geschichte des ungleichen Geschwisterpaars, das in Teenagerjahren ihren eigenen Weg geht, nur um Jahre später durch einen unerklärlichen inneren Drang, durch eine leise kosmische Vorahnung in Paris wieder zueinander zu finden und dort im Badezimmer eines klitzekleinen Appartements mit Kinderspielzeug, zweckentfremdeten Elektrogeräten wie einem Föhn oder gar einer Popcornmaschine, Harfen und einer Menge skurriler Percussions ihr Debüt "La Maison de Mon Rêve" aufzunehmen, wird gerne immer wieder erzählt. Auch, dass Sierra am Konservatorium in Paris Gesang studierte, ist bis heute aus den verqueren, verwinkelten, stachligen Songs sofort herauszuhören. Bianca, die visuellere Künstlerin der beiden, malte als Kind gerne Gesichter, die sie später als Art Masken für Live-Konzerte sich selbst auf ihr Antlitz zeichnete und die auch auf den CocoRosie Alben als Alter Egos eigene Eigendynamik entwickelten.

Sierra und Bianca Casady alias CocoRosie

CocoRosie

Schon immer spielten die beiden Schwestern mit Symbolen der Welt der "supernatural creatures", wie sie Bianca immer wieder gerne bezeichnet. Meist sind es Werwölfe oder andere Schattenwesen, die da durch die Songs streiften. Das beste und gelungenste Beispiel für die Verquickung von übernatürlichen Existenzen und unserer materialistischen Welt ist "Fairy Paradise", ein Track, in dem eine kleine Drehorgelmelodie und die einem Schlaflied ähnliche Sprecherzählung durch einen raveartigen Beat gebrochen wird. Schon von Beginn an wird der Sound zerhackt, als würden sich die Nullen und Einsen weigern, zu der mystische Klangwelt von CocoRosie zusammenschmelzen. Nach kurzem Zögern erklärt Bianca in nachdenklichem Ton, die Idee für diesen Song war sich vorzustellen, wie wohl ein Rave von Fabelwesen klingen würde. Darüber hinaus spiegle "Fairy Paradise" ihr Bestreben wider, organische Sounds mit künstlich erzeugten in Einklang zu bringen.

Kreative Spiele

Von Einklang war während der Produktionsphase musikalisch nicht viel zu spüren. Zu zerklüftet, zu anstrengend, zu verwirrend war die lange Zeit, in der jeweils nach den Touren in über fünf verschiedenen Ländern in den unterschiedlichsten Studios mit den unterschiedlichsten Leuten aufgenommen wurde.

Plattencover zu CocoRosie "Grey Oceans"

CocoRosie

Zu Beginn sah es laut Bianca noch so aus, als würde "Grey Oceans" ein sehr "modern klingendes", fast schon fröhliches Album mit elektronischen Dance-Momenten werden. Doch in der späteren Phase kamen wieder die für CocoRosie typischen, altmodischen Klangaspekte dazu. Es ist schwer sie dezidiert zu benennen oder herauszustreichen. Vielleicht ist es diese unheimlich anmutende Atmosphäre, die bei jeder Nummer mitschwingt, manchmal ausgelöst durch einen warmen Hall, in dem sich Gesänge verlieren, manchmal hervorgerufen durch das Kratzen eines Bogens auf einem Saiteninstrument oder das breit angelegte, immer wieder auftauchende Klavier, dass diesmal mehr denn je zum Einsatz kam.

Bei ihrer ersten Aufnahmesession in Buenos Aires machten Bianca und Sierra Bekanntschaft mit dem in Paris lebenden Jazzpianisten Gael Rakotondrabe, der im Laufe des eineinhalb Jahre andauernden Aufnahmeprozesses zum fixen Bandmitglied wurde.

Gael Rakotondrabe

Er hätte von Anfang an die Bilder, Geschichten und Ideen über- und umsetzten können, schwärmt Bianca. Zuerst mussten die CocoRosie Schwestern mit Gael jedoch kreative Spiele im Studio zelebrieren, um sein technisches Können zu brechen und dadurch seine intuitiven, kreativen Quellen anzapfen zu können. So entstand zum Beispiel der witzige, eingängige und beschwingte Anfang von "Hopscotch". Es ist laut Bianca eine Art "kiddy folk", die Sorte von Lied, die Kinder mit Klatschen und einer Gesangsmelodie erfinden, oft als Begleitung zu dem gleichnamigen Straßenhüpfspiel Hopscotch, bei uns besser bekannt als Hickelkasten. Das große Potential von Gael Rakotondrabe wird auch bei dem Titelsong "Grey Oceans" transparent, das mit seinen einfachen, melancholischen, herzerwärmenden, gefühlvoll gespielten Akkorden sofort unter die Haut geht und begleitet von dem kirchenartigen Operngesang im Hintergrund und der kindlichen Erzählstimme im Vordergrund einen komplett in seinen Bann zieht und erst mit dem Fadeout nach viereinhalb Minuten wieder los lässt.

CocoRosie

Samantha West

Extravaganter Pop

"Grey Oceans" von CocoRosie ist auf auf Souterrain Transmissions / RoughTrade erschienen.

Mehr zu dem Album gibt es am Montag 3. Mai in der FM4 Homebase ab 19 Uhr zu hören.

Was immer man von dem visuellen Stil der Casady Geschwister, ihrer teils überschwänglichen Faszination für die Welt der Fabelwesen und übernatürlichen Kreaturen und ihrem künstlerischen Umgang mit dieser okkulten Symbolik halten mag, musikalisch gesehen beweisen CocoRosie mit "Grey Oceans" einmal mehr, dass die Zusammenführung von Pop, Elektronik und Kunst nicht unweigerlich zu einem clubtauglichen, hedonistischen, zeitgeistigen Hybrid werden muss. Im Fall der Casady Schwestern ist das Experimentieren, das Suchen nach neuen Sounds und das stetige Hinterfragen der eigenen Wandelbarkeit zwar existentieller Bestandteil ihrer ganz persönlichen und schrägen Musikvorstellung, jedoch wird ihr Klangkosmos dadurch von außen zu einem spannenden, sich durch die Kopfhörer sofort erschließenden Universum, in dem der Popaspekt erst nach kompletter Dekonstruktion gezielt in kleinen Dosen wieder zurück in den zerklüfteten Song einfließt.

CocoRosie

CocoRosie

Da kann in "R.I.P. Burn Face" ein Vocoder verwendet werden, ohne dass gleich die üblichen Assoziationen auftauchen. Da erzeugen gedämpfte Trompeten bei "Lemonade" mit den simplen Beats und dem spärlichen Klavier einen eigenwilligen Trauermarsch. Da verliebt sich in "The Moon Asked The Crow" zu einem holperndem Drumloop die silberne Scheibe am Himmel in das schwarze Federvieh und dem Song "Undertaker" wird als Referenz auf die eigene Vergangenheit unprätentiös und sehr behutsam ein Text in der Sprache der Cherokee vorangestellt, der sich in einer langsamen Klavier- und Streichersample-Ballade auflöst.

"Grey Oceans" ist ein uferloses, schwer zu ergründendes und zugleich unmittelbar berührendes Album, vom dem sich so manche isländische Sängerin eine Scheibe abschneiden könnte.