Erstellt am: 30. 4. 2009 - 13:34 Uhr
Schweinegrippe-Alarm in Mexiko City
Herwig Weber ist in México City Dozent für Literaturwissenschaft, Philosophie und Deutsch als Fremdsprache an der Universidad del Claustro de Sor Juana und an der Philosophischen Fakultät der UNAM.
Der Tischler, der neben meinem Wohnhaus vor seinem offenen Laden steht, macht sich darüber lustig, dass ich meinen blauen Atemschutz – dünnes Taschentuchpapier an zwei Fäden – trage: Ich solle doch auch meinem Hund einen überziehen, der sei doch völlig ungeschützt. Und lacht dabei dieses laute und ungehinderte Lachen, das man sonst sehr häufig hört in den Strassen von Mexiko City (oder D.F. – Distrito Federal - wie die Menschen hier sagen – ausgesprochen: DE-EFE). Die Kellnerin im kleinen Café um die Ecke erzählt mir den neuesten Witz, auf das sehr leichte Erdbeben am vergangenen Sonntag anspielend: "Was sagt die D.F. zur Schweinegrippe? Uahhh: Schau wie ich zittere." So kann man sich auch Mut machen.

Herwig Weber
Eine Stadt mit Schutzmasken
Sonst, so wollen es die Informationen von offizieller Stelle, gibt es eher weniger zu lachen in der Millionenmetropole, seit in der Nacht von Donnerstag auf Freitag vergangener Woche die selbst für Mexiko-City drastischen Maßnahmen gegen eine "Grippewelle" bekannt gegeben werden: Schulen und Universitäten sind bis auf weiteres geschlossen, vom Besuch von Restaurants, Kinos, kulturellen und sportlichen Veranstaltungen wird abgeraten. Viele Studenten erreicht diese nächtliche Aufforderung nicht mehr rechtzeitig und sie stehen Freitag früh vor den verschlossenen Türen der Universität. Andere nutzen den freien Tag einfach zum Ausschlafen. Am Freitag beginnt die Armee dann, Schutzmasken auszugeben, viele Leute stehen in den Apotheken Schlange, um eine zu ergattern. Bald sind keine mehr zu bekommen. Präventiv wird dies auch an den Apotheken angeschlagen. Gewiefte Geschäftemacher, oder solche, die einfach dringend Geld brauchen, verkaufen Schutzmasken um das Zehnfache des normalen Preises. Ein Mann wird von der Polizei angehalten, weil er drei, eben erst gratis erhaltene Masken, um die Ecke teuer verkauft.
Schutzmasken sind aufgrund des Smogs in Mexiko City kein so ungewöhnliches Bild wie in Europa, seit Samstag trägt sie aber jeder/jede Zweite auf der Straße. Ich beschließe, nicht mehr mit der U-Bahn zu fahren. Es werden Zahlen bekannt gegeben, nach denen über 100 Menschen seit Anfang März an Grippe gestorben seien. Aber gibt es nicht jedes Jahr eine Grippewelle? Und sterben nicht jedes Jahr viele in ihrem Verlauf? Es wird verlautbart, dass ein unbekannter Grippevirus für einige Fälle verantwortlich und dieser extrem ansteckend sei. Am Wochenende ist die Stadt dann menschenleer. Viele kommen der Aufforderung nach, besser zu Hause zu bleiben. Auf das große Universitätsgelände der staatlichen Universität (UNAM), an Sonntagen sonst beliebter Treffpunkt für bewegungssüchtige Städter, wagen sich heute nur wenige. Nur einige Kinder einer Straßenverkäuferin schlagen die Warnungen der Behörden in den Wind oder wissen nichts davon, und kleben wie Kletten an uns.
Körperkontakt verboten
Andere halten sich streng an die Empfehlungen: Am Montag, ein Treffen in einem Verlag - wir geben uns nicht die Hände, Witzchen werden gerissen darüber (in Mexiko gibt man sich sonst sehr ausgiebig die Hände oder umarmt sich stundenlang). Vor dem Verlassen des Gebäudes gehen mein Begleiter und ich dann aber gleich zweimal Händewaschen. Ich schwanke zwischen Vorsicht und innerlichem Abwiegeln.

Herwig Weber
Präsident Calderón der konservativen PAN-Partei verlautbart, er habe die Situation im Griff: Es gebe genügend Impfstoff für alle an der (bisher unbekannten ?!) Grippe Erkrankten. Ich überlege, auf ein Bier zu gehen. Eine Bekannte, deren Schwester in einem Krankenhaus arbeitet, schreibt mir, in den Spitälern seien schon 10 Ärzte gestorben, es gebe kein Gegenmittel gegen diese Krankheit und wer sie bekäme, sei dem Tod geweiht. Wir sollten alle zuhause bleiben, sonst hole uns alle der Kasperl (el payaso). Ich bleibe zu Hause.
Die Chilangos (die EinwohnerInnen von D.F.) sind Ausnahmezustände gewohnt: Wasserknappheit, Erdbebengefahr, Bürokratie und Verkehrstaus zählen zu den Alltagserfahrungen und haben die Bevölkerung zur Geduld erzogen: Von hektischer Panik ist am Wochenanfang daher wenig zu spüren, eher das Gegenteil ist der Fall: Alles wirkt gedämpfter - Restaurants bleiben auf Anweisung der Stadtregierung geschlossen oder dürfen nur Essen zum Mitnehmen verkaufen. Vor allem gibt es ein bisschen weniger Autoverkehr. Besuch aus Österreich schlägt vor, das auszunutzen, und in den Norden der Stadt, in das schicke Polanco, zu fahren, um in Containern Kunst anzuschauen. Ist das jetzt gefährlich? Oder ist das jetzt die Zeit, sich Kunst in Containern zu geben, weil es sonst niemand macht? Wir wissen es nicht. Wir kommen zügig voran - eine Erholung fast im sonst von Horrorstaus geplagten D.F. Im Auto setzen wir manchmal die Schutzmasken auf, manchmal nehmen wir sie ab. Die Container haben (zum Glück?) geschlossen.
Cafés geschlossen

Herwig Weber
Am Dienstag im sehr populären México-Park im hippen Condesa-Bezirk sehe ich Jogger mit und ohne Masken, es sind auch nicht weniger Leute auf der Straße als sonst, allerdings ist kein offenes Café zu finden - nur ein Lokal ist geöffnet, die zwei älteren Damen, die es betreiben, lassen Schweinegrippe Schweinegrippe und Stadtanweisung Stadtanweisung sein. Es gibt allerdings auch kein Waschbecken. Ich esse die Bohnenbrötchen (Molletes) mit den Fingerspitzen und wische den Strohhalm für den Orangensaft ab. Der Gastronomie entgehen durch die Schutzmaßnahmen über 700 Millionen Pesos an Einnahmen lese ich dann am Abend.
Die letzten offiziellen Zahlen vom Mittwoch sprechen dann von 49 Schweinegrippefällen in Mexiko, von denen 7 gestorben sind. Die Regierung kündigt umfassende Früherkennungsmaßnahmen an. Mich erreichen E-Mails, in denen über die empfohlenen Schutzmaßnahmen gescherzt wird (Fenster offen lassen, aber mit Schutzmasken auf die Strasse gehen) und die Gefahr relativiert wird (In welche Relation stehen die Grippezahlen zu den zwanzig Millionen Einwohnern?), aber auch ernste Warnungen zur Einhaltung der Vorsichtsmaßnahmen.
Grippehype
Auch Gerüchte mehren sich dann am Mittwoch: Pharmakonzerne steckten hinter dem Grippehype (das kannte man schon); die Regierung habe die Schweinegrippe erfunden, um damit die traditionellen und regierungskritischen Maiaufmärsche zu verhindern (das ist originell); die Schweinegrippe käme aus einer katastrophal geführten Schweinefarm im Bundesstaat Veracruz (das führte zu 80% weniger Schweinefleischkonsum, wie ich eben lese); es habe schon vor Monaten Schweinegrippetote in Veracruz gegeben, die Regierung habe das aber verheimlicht, um die eigene Unfähigkeit nicht bloßzustellen; die Stadtregierung erwäge, auch Supermärkte zu schließen.

Herwig Weber
Ich gehe daraufhin in den Supermarkt, wo es auch nicht mehr Leute gibt als sonst. Die Verkäufer tragen Schutzmasken. Man achtet darauf, ob jemand niest oder hustet. Ich kehre mit vollem Einkaufswagen zurück. Der Tischler lacht wieder.