Erstellt am: 16. 4. 2009 - 12:11 Uhr
Hören mit Schaudern
Welch immense Bedeutung Filmmusik hat, zumindest für meine Wenigkeit, wurde mir vorgestern wieder bewusst.
Da saß ich nämlich in der Pressevorführung zum neuen "Star Trek"-Spektakel - ein ganz großartiger Film, nebenbei bemerkt - und ließ mich von dem Geschehen auf der Leinwand mitreißen. Und immer wieder, wenn die Dramatik einen Höhepunkt erreichte, tauchten in dem brandneuen Score des "Lost"-Komponisten Michael Giacchino klitzekleine Zitate auf, Bruchstücke des alten Enterprise-TV-Themas.
Wenn diese Kennmelodie von Alexander Courage dann schließlich ausgespielt wird, ist es schlicht überwältigend.
Natürlich schlägt für alle, die mit der Originalserie sozialisiert wurden, der Nostalgieeffekt unerbittlich zu, das eigene Leben rollt parallel zu dem von Kirk und Spock vor dem geistigen Auge ab. Aber der Gänsehautfaktor rührt auch daher, dass dieses verstaubte Stückchen Musik einfach einen Euphoriebonus birgt, der seinesgleichen sucht.
Auf die Gefahr hin, wie ein muffiger Kulturpessimist zu klingen: Solche und ähnliche wunderbar überzogenen, plakativen, bisweilen hysterischen Fernseh-Vorspannmelodien, wie es sie in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren gab, sind heute leider Mangelware. Noch schlimmer sieht die Situation im Kino aus.
Wo sind die überlebensgroßen Hymnen zu den Leinwand-Heroen der Gegenwart? Kann jemand spontan den Soundtrack zu "The Dark Knight" nachpfeifen? Welcher aktuelle Komponist schließt an das monumentale Erbe von John Williams an, an dessen ewig gültige Ouvertüren zu "Star Wars", "Indiana Jones" und "Superman"? Was sind schon die Beatles oder Stones gegen das gigantische Werk von Il Maestro Ennio Morricone?
Um endlich näher zum Punkt zu kommen: Welcher zeitgenössische Horrorthriller verfolgt einen auch musikalisch im Schlaf? Welcher moderne Grusel-Komponist vermag die düsteren Electroscores eines John Carpenter zu übertreffen? Und warum gibt es keine schaurigen Gesamtkunstwerke aus Bild und Ton mehr, wie sie Dario Argento gemeinsam mit Goblin schuf?
Anchor Bay
Wenn ich zurückdenke, dann erfolgte mein erstes, erregtes Eintauchen ins einzigartige Goblin-Universum sogar ohne filmische Unterstützung.
Immer wieder waren mir bei kindlichen Adria-Urlauben mit der Familie die blutroten Aushangfotos vor diversen Kinos fasziniert aufgefallen. Die dazugehörigen Giallo-Metzeleien durfte ich trotz höchst toleranter Eltern zwar noch nicht genießen, aber in Spezialplattenläden von Lignano bis Bibbione wurde ich in Sachen Soundtracks fündig.
Wird das jetzt hier endgültig zu einer "Papa erzählt vom Krieg"-Geschichte, wenn ich das obsolete Medium Audiokassette ins Spiel bringe? Jedenfalls karrte ich neben jugendgefährdenden Comics und Superhelden-Figuren auch immer jede Menge Tapes von diesen Reisen mit nach Hause. Und dort lag ich dann, starrte in meinem Zimmer auf die Decke und lauschte Stücken wie "Black Forest", "Deep Shadows" oder "Suspiria" von Goblin, ohne die dazugehörigen Filme von Dario Argento zu kennen.
Was für eine unglaubliche Musik war das. Antike Analogsynthies pulsierten und brummten, Gitarren kreischten, Kirchenorgeln heulten, die Drums peitschten verquere Rhythmen, dazwischen zischelten Stimmen immer wieder: "Witch!" "Witch!" Mein infantiles Gehör, gerade mal Popcharts-geschult, erlebte verstörende, lustvolle Schocks.
Simonetti, Morante, Pignatelli, Marangolo, diese Namen prägten sich bei mir ein und verwirrten meine kleine Seele. Goblin, die vier Reiter der Apokalypse, waren neben ABBA und den Beatles die Helden in meinem Kinderzimmer.
Später folgte dann der Schlüsselfilm, die Initialzündung, der Moment, der das Kino und mich und mehrere Popkultur-Generationen veränderte: "Dawn Of The Dead" von George Romero, der Kaufhaus-"Zombie", produziert von Argento, der die europäische Fassung betreute. In eben dieser Edition, die dem US-Original haushoch überlegen ist, dröhnen und rocken sie, überlagern die bedrohlichen Bilder mit einer Musik, die für einen Moment lang alles schlägt: die mächtigen Goblin.
Goblin
Noch später dann klärt sich das Bild, die erwähnten Filme landen im Regal, das Goblin-Mysterium bekommt Gesichter. Es ist der Spaghetti-Splatter-Godfather Dario Argento, der 1975 die Musiker diverser aufgelöster italienischer Beatcombos zusammenbringt. Die von ihm initiierte Formation soll den Soundtrack zu seinem Thriller "Profondo Rosso" schreiben - und bekommt den Namen Goblin verpasst.
Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit entscheidet sich die Band weiterzumachen. Die Einflüsse sind für Menschen mit puristischen Punkrock-Regeln mehr als waffenscheinpflichtig: Her mit dem Bombast von Yes! Gebt uns die Keyboard-Orgien von Emerson, Lake & Palmer! Huldigt dem feierlichen Schwulst eines Mike Oldfield! Tubular Bells forever!
Goblin verwerten all diese Inspirationen aber auf eine ganz spezielle Weise. Immer im Zeichen des Horrors, der heiligen Gänsehaut, aber auch des gewagten Experiments. Für einen Augenblick lang sind sie in den späten Siebzigern nicht nur Soundtrack-Götter, sondern auch das Italo-Pendant zu Pink Floyd, ein Megaact, der römische Hallen ausverkauft.
Dann, in den Achtzigern, wo für die bärtigen, wuselhaarigen Prog-Jünger der Ausverkauf beginnt, bleibt es in Wirklichkeit weiterhin spannend. Viele Auflösungen und Wiedervereinigungen passieren, inzwischen macht Keyboarder Claudio Simonetti eine Karriere als Italo-Disco-Pionier.
Dieser Schlenker in den hypnotisierenden Club-Kitsch, ins Reich der billig scheppernden Simmons-Drums und Moroder-Basslines, färbt auch auf die Soundtracks von Goblin ab. Bestes Beispiel: der Score zum Argento-Blutbad "Tenebrae", der auf eine bizarre Art tanzbar und psychotisch zugleich wirkt.
Goblin
Als Sprössling des Popkultur-Paläozoikums, als die Erfindung des Internets noch so fern wirkte wie der Flug zum Mars, kam ich mir mit meinen verschrobenen Vorlieben natürlich schrecklich einsam vor.
Heute weiß ich längst, dass überall auf dem Planeten Mädchen und Buben (leider eher Buben, zugegeben) in ihren Zimmerchen hockten und obskure Bilderhefte sammelten, abwegige Filme konsumierten und Musik hörten, die im besten Sinn bleibende Schäden hinterließ. Viele dieser Menschen machen heute selber Filme, zeichnen Comics oder komponieren Musik.
Goblin haben international den Weg von der Splatternerd-Community in die Hipness-Zone mit Verspätung, aber doch geschafft. Nachdem Legionen von Death-/Black-/Doom-Metal-Bands ihre Konzerte mit "Dawn Of The Dead"-Klängen einleiteten, stürzt sich seit geraumer Zeit die Electro-Ecke auf die Italiener.
Acts wie Zombie Zombie, Cocadisco, Crossover oder Zombi kreieren Soundtracks zu imaginären Giallo-Slashermovies, Justice bedienten sich für ihren Smashhit "Phantom" direkt bei der Originalquelle und sampleten den "Tenebrae"-Score. Italo-Disco-Reanimatoren wie Heartbreak lobpreisen zurecht die historische Bedeutung von Goblin: In dieser Band und ihren Mitgliedern vereinen sich die nur scheinbar konträren Welten von Heavy Rock und Disco, Prog und Pop, Brutalität und Schönheit.
Die spannenderen Köpfe der aktuellen Musikszene haben ihre Goblin-Lektion jedenfalls gelernt. Vielen Filmemachern, gar nicht zu reden von heimischen Regiepuristen, sollte man die legendären Soundtracks zu "Suspiria" oder "Dawn Of The Dead" noch um die Ohren donnern.
Bilder alleine sind zu wenig. Geschichten erzählen kann man auch in Buchform. Dialoge passen auch auf eine Theaterbühne. Botschaften kann man auch mit der Post verschicken. Erst wenn das alles zusammen kommt und von einer unvergesslichen, eindringlichen, die Sinne manipulierenden Musik durchdrungen wird, erst dann ist es richtiges Kino.
Goblin, bitte auf die Showbühne.
Goblin
Goblin spielen am Do. 23.4. am Donaufestival, um 19h im Klangraum Krems.