Erstellt am: 6. 4. 2016 - 13:50 Uhr
You cannot reach me
Ich muss eine Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert erzählen.
Es hätte eigentlich eine andere werden sollen, vorige Woche schon. Erst eine über die ethnischen Aspekte der kommenden Londoner Bürgermeisterwahlen.
Dann eine über die Pleite der britischen Stahlindustrie, und wie ausgerechnet diese den Opfernarzissmus der Briten gegenüber der mächtigen EU Lügen straft.
Dann wieder eine über die Ausflüchte des britischen Premierminsters nach Veröffentlichung der Panama Papers und warum die ganze Affäre wie so viele andere letztendlich als eine Spätfolge des nie überwundenen britischen Kolonialismus zu betrachten ist.
Oder eine darüber, dass im Nordirland des 21. Jahrhunderts eine Frau wegen illegaler Abtreibung ins Gefängnis geht.
Aber aus all dem wurde nichts, weil mich in der Zwischenzeit eben das vorige Jahrhundert eingeholt und erst unmerklich, dann mit voller Brutalität weg von meiner Tastatur und in ein tiefes schwarzes Loch hinein gezerrt hat.
Ich schreibe diesen Blog also hier jetzt von der anderen Seite. Von dort, wo mich niemand mehr erreichen kann. Lasst mich erklären.
An einem milchigen Tag in London, war es 1997 oder '98, man weiß es nicht mehr, an einem solchen Tag also saß ich in meinem Arbeitszimmer und telefonierte gerade irgendeiner heute längst nicht mehr existenten Plattenfirma hinterher, um irgendein Interview mit irgendeiner heute längst vergessenen Band zu organisieren. Wieder einmal waren alle Leute, mit denen ich sprechen musste, „in a meeting. But I can leave a note to call you back. Or you could send a fax.“
Die Musikindustrie des ausgehenden 20. Jahrhunderts war immer, aber auch immer „in a meeting“.
Jahrzehnte später sollten wir Bücher kaufen, in denen launig erzählt werden würde, dass jenes legendäre Indie-Label eigentlich immer vollzählig im Pub anzutreffen war und jenes gewisse Major-Label seinen gesamten Nahrungsbedarf in Pulverform aus Kolumbien bezog.
Aber aus meiner Perspektive der späten Neunziger Jahre bedeutete das ein Leben der hinterlassenen und niemals abgeholten Nachrichten.
Es sei denn, dass Austrian Radio aus irgendeinem Grund auf die To-Do-Liste einer Promotion-Abteilung gerutscht war, dann versprachen einem plötzlich Promo-Agentinnen, die sonst immer „in a meeting“ waren, total exklusive Interviewtermine mit aus britischer Sicht weltbeherrschenden, aus Sicht österreichischer und deutscher Redaktionen dagegen eher lokal relevanten Talenten ("Unser Wirtschaftsredakteur sagt, er hat von diesen Blur noch nie gehört, und wen er die nicht kennt, kennen die unsere Leser auch nicht").
In letzter Zeit war es mir dabei immer öfter passiert, dass zu diesen versprochenen Interview-Terminen dann erst recht niemand erschienen war.
Ich lief dann zur nächsten Telefonzelle, rief in einem der Bürotürme der Musikindustrie an und erfuhr, dass sich die gesamte Promo-Kiste einfach um ein paar Stunden oder Tage oder Postleitzahlen verschoben hatte. "But we couldn't reach you."
In der Zwischenzeit hatten die Firmen all diesen Leuten nämlich Mobiltelefone in die Hand gedrückt. Diese Geräte bedeuteten, dass Promo-Menschen ab nun überall, nur nicht mehr an ihren Schreibtischen aufzufinden waren.
Unter ihren utopisch langen Telefonnummern konnte ich sie nun zwar etwas öfter als zuvor erreichen. Doch sobald ich mein Haus verließ, entglitt mir auch ihre neue Welt, und eine Fahrt mit der Underground zum ausgemachten Ort an der ausgemachten Zeit dauerte oft schon lange genug, um mich gnadenlos abzuschütteln.
An diesem milchigen Tag in London also läutete das Telefon, und da war jemand dran von einer Firma, deren Name mir heute nicht mehr einfällt, irgendsowas wie First Line wird’s gewesen sein.
Diese Person jedenfalls bot mir ein Mobiltelefon an. Gratis. Sozusagen.
Ich stellte alle möglichen Fragen, weil ich es nicht glauben konnte. Natürlich, da war der Vertrag und der monatliche Betrag, aber die Telefone selbst waren bis dahin immer sündteuer gewesen, und jetzt bekam ich plötzlich eines nachgeworfen.
Einen Tag später brachte der Botendienst mein erstes „mobile“ (ich hatte nie ein „Handy“) vom schwedischen Hersteller Ericsson. Man konnte zwischen vier verschiedenen Schutzplättchen über der Tastatur wählen: blau, gelb, grün oder rot. Ich entschied mich für blau.

Ericsson
Das Ding veränderte mein Leben, aber von Anfang an mit Abstrichen. Man konnte mich nun erreichen, aber nach jedem zweiten Anruf war die Batterie aus. Manchmal sogar nach dem ersten.
Es folgte die allen Menschen in meinem Alter erinnerliche, jährliche Abfolge nachgeworfener Telefone verschiedener Hersteller, und bald schon das erste, für das ich dann doch einen Aufpreis zahlte (weil es eine Cybershot-Kamera hatte, und natürlich den "Old Phone"-Klingelton).
Irgendwann gegen Ende der Nullerjahre begann sich die "But we couldn't reach you"-Beschwerde bereits auf Emails zu erweitern ("But I sent you an email half an hour ago!"). Was mich zum Erwerb des ersten tastenlosen Teufelsdings erpresste. Toll war es schon auch, eh.
Parallel zu all dem veränderten sich auch die Briefköpfe auf meinen Rechnungen. First Line, oder wie immer es geheißen hatte, verschwand ungefähr mit der Jahrtausendwende, ersetzt durch diverse andere Logos, aber mein Deal wanderte immer mit, bis sich schließlich einer der sich gemäß dem Drang des Markts zur Monopolisierung durchsetzenden, multinationalen neuen Telephoniekonzerne für alle Zukunft mit beiden roten Arschbacken auf meinen Vertrag setzte.
Ich war nun Teil einer großen Familie, der ich nie bewusst beigetreten war. Bilder fröhlicher junger Menschen, mit denen ich mich identifizieren sollte, grinsten mir von Rechnungen beigelegten Werbeprospekten, später dann von Emails entgegen.
Manchmal frage ich mich, was aus diesen Leuten geworden ist, deren unbeschwerte Fratzen mir hin und wieder beim Ausmisten unterkommen. Was passierte, als die ersten Krähenfüße kamen, und die Agentur sich nicht mehr meldete? Was denken die sich, wenn sie auf ihren eigenen Telefonrechnungen die Grinsebilder ihrer Nachfolger_innen sehen?
Jedes neue mit Grinsebild geliefterte Gratis- oder Billiger-Telefon bedeutete indessen eine Verlängerung meines Vertrags, und jedesmal sagte ich aus Bequemlichkeit ja, auch wenn die Rechnungen trotz aller neuen Angebote und individuell auf mich zugeschnittenen Deals irgendwie immer unverändert auf 70 bis 100 Pfund pro Monat hinausliefen.
Man runzelt die Stirn und zahlt, weil man nicht in die byzantinische Welt der Customer Service Line gezerrt werden will, in der Hoffnung, dass das System einen in Ruhe lässt, solange man es nur brav füttert. Selbst wenn das bedeutet, dass mich manchmal ein einziges in Österreich empfangenes SMS („Guten Morgen, wie geht’s? Sehen euch später“) drei Pfund kosten kann (zu komplex, um es hier zu erklären).
Und dennoch war es ich selbst, der letzte Woche todesmutig die Nummer der Customer Service Line wählte.
Die Teenager-Tochter brauchte ein neues Telefon (meinem ersten iPhone war endlich der Ein- und Ausschalte-Knopf abgefallen), und ein tief in unserer abendländischen Kultur verwurzeltes Initiationsritual stand an.
Jetzt, wo sie langsam erwachsen wird, war es endlich an der Zeit, auch die Tochter in meinen „price plan“ mit einzugemeinden. Von wegen der 500 Gratisminuten und „unlimited texts“.
Also den Kopf in das Maul des Löwen und anrufen. Und nach bloß zehn oder zwanzig Minuten Menü und originellen „security questions“, gefolgt von einem Schnellrundgang durch das bürokratische Labyrinth der Terms & Conditions, referierte mir der freundliche junge Schotte am anderen Ende der Leitung bereits stolz die Ergebnisse seiner Dienstleistung.
Nein, sagte ich darauf, ich habe keineswegs gewollt, dass er meine Telefonnummer durch die meiner Tochter ersetze. Ich wollte vielmehr, dass sie auf ihrem neuen Telefon ihre alte Telefonnumer behält.
Ach so, meinte er, das habe er völlig falsch verstanden. Kein Problem, das ließe sich alles korrigieren. Und ich hörte das Klappern seiner Tastatur.
Eine kleine Ewigkeit später hatten wir den neuen Deal, und ich legte auf.
Minuten drauf erreichte mich ein SMS der Telefongesellschaft, das mir für meine Bestellung dankte und mir in begeisterten Tönen versicherte, dass meine einige Nummer am 5. April durch die meiner Tochter ersetzt würde.
Es war der Beginn einer langen Ferngesprächsbeziehung mit der Customer Services Line meines Mobilfunk-Multis, die sich über das ganze Wochenende bis gestern dahin zog und immer noch anhält.
Über die ganze Dauer unserer stundenlangen Gespräche hinweg wurden mir die Gründe auseinandergesetzt, warum das neue Telefon meiner Tochter nicht zu ihrer Nummer fand und findet.
Sicherheitshalber erwähnte ich dabei immer wieder die von mir erhaltene, besorgniserregende SMS. „Nein, Sir, Ihre Nummer ist davon sicher nicht betroffen, Sir.“
Meine Berater_innen erfanden immer neue Reifen, durch die ich zu springen hatte, um der Tochter zu ihrer Nummer zu verhelfen:
Die Seriennummer der SIM-Card finden und vorlesen, ein Formular online ausfüllen, und natürlich jede Menge Warteschleifen-Pop hören. Nach einer Weile (einer ganz schön langen Weile) setzte ich mich ans Klavier und spielte mit. Der Reggae, der Indie-Rock-Song, der Dance-Pop-Song („I got you.. on my mind!!!“), alles in A-Moll. Interessant.
Alles, was das Leben an Sonstigem zu bieten hat, ist interessant nach ein paar Stunden Warteschleifen-Pop.
Bei einem der vielen Gespräche mit Menschen aus aller Welt (zumindest Schottland, der englische Norden und Indien oder Pakistan), als mein neuester Bekannter an der anderen Leitung mir wieder einmal eine neuartige Interpretation meines exotischen Begehrs vorgetragen hatte, mag ich unter Umständen meine Stimme erhoben haben. Aber dass die Customer Service Line einfach auflegte, war mir dann doch zu viel.
Noch einmal anrufen, hilft nichts.
Gegen Abend dann der Sohn, der sagt, er habe mir eine Message geschickt. Und keine Spur davon. Nur eine düstere Ahnung. „Ruf mich doch bitte einmal an“, sag ich, und tatsächlich: Was ich von Anfang an befürchtet hatte, war geschehen. Meine Nummer war abgeschafft, ausradiert, 18 Jahre nach dem schicksalshaften Werbegespräch damals mit First Line, als ich sie zum ersten Mal vernommen hatte. Ein Teil meines Ichs vernichtet durch ein paar leichtfertige Clicks des freundlichen Schotten vom ersten Gespräch, dessen erste Tat dem System offenbar nicht zu entringen war.
Und als ich dann meinen Sohn zurückrief, war ich auf seinem Display zu seiner Schwester mutiert.
Jetzt endgültig gebrochen erreichte ich noch ein letztes Mal die Customer Service Line und erzählte einer Neuseeländerin die ganze Leier in einem derart geschlagenen Tonfall, dass sie mich wörtlich wegen meines „Traumas“ zu bemitleiden begann.
Es stellte sich heraus: Der Berater, mit dem ich am Nachmittag gesprochen hatte, hatte gar nicht aufgelegt.
Meine Nummer war vielmehr vernichtet worden, während er mir versicherte, dass ebendies sicher nicht passieren würde.
"I am escalating your case", sagte die Neuseeländerin, meinte damit aber nichts Böses, sondern: Den Fall die Dringlichkeitsskala hinauf in Richtung Vorgesetzte schicken.
Man würde sich sofort am Morgen drum kümmern, denn jetzt sei das ganze Team schon heimgegangen. 48 Stunden würde es schon dauern, meine Nummer wiederzukriegen.
In Wahrheit ist sie wahrscheinlich längst in die große Nummernspüle gerutscht, in der die Nummern aller Toten und Abgemeldeten kreisen und von den Mobilfunk-Multis zur Wiederverwendung neu entnommen werden. Die schlimmste Annahme ist immer die richtige.
Als ich ihr am Ende unseres Gesprächs einen schönen Feierabend wünschte, antwortete die Neuseeländerin mit „Es tut mir leid“. Nein, das sei nicht sarkastisch gewesen, sagte ich. „Schon gut. Sie haben das Recht dazu, nach Ihrem Trauma. Und das auch noch mit einer Teenager-Tochter, die macht Ihnen sicher die Hölle heiß.“ So viel Mitleid mit mir machte mir natürlich gleich ein schlechtes Gewissen, und ich hatte Lust, mich selbst für alles zu entschuldigen und den Verlust meiner Nummer als gerechte Strafe für was auch immer hinzunehmen.
Beim Auflegen wurde mir erst bewusst, dass ich jetzt tatsächlich verschwunden war. I cannot be reached. Hier ist 1998, im Radio laufen die Spice Girls, Tony Blair sucht seine Mission für die Geschichtsbücher, und in Österreich regiert Viktor Klima. Ob ich wieder zurückkomme, steht noch nicht fest.
Mein Mobilfunk-Multi gilt übrigens nicht erst seit den Panama Papers als einer der berüchtigsten Steuervermeider Großbritanniens. Effizienz herrscht, wo sie wirklich gebraucht wird.
Update 7.4.: Ich hab meine Nummer wieder, alles gelöst. Meine Geschicke wendeten sich, sobald ich auf die nukleare englische Option zurückgriff, in möglichst gutbürgerlichem Akzent mit "meinen Anwälten" zu drohen.
Schon war Mr Helpful aus den obersten Stocktürmen des Turms von Byzanz dran, der mit mysteriösen Superkräften binnen Minuten alles hinbog. Wieder was dazugelernt.